Willcox und Mannish

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Sergeant Tom Mannish sichtete schon seit Tagen Überwachungsvideo.

Die Aufzeichnungen begannen allesamt am Tag des Verschwindens von Peter Bellamy und endeten zwei Tage danach. Mit diesem Zeitrahmen hatte man erfahrungsgemäß ein gutes Zeitfenster, um stattfindende Sachlagen zu untersuchen. Zudem war dieser Zeitrahmen sowohl von den Gerichten als auch von den Verteidigern mittlerweile anerkannt.

London selbst war wohl der Geburtsort der Videoüberwachungen. Es war allgemein akzeptiert, dass stetig Aufzeichnungen von der eigenen Person stattfanden. Es diente dem allgemeinen Sicherheitsempfinden ebenso, wie es half, Gefahren zu erkennen oder begangene Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zu erkennen und zu verfolgen.

Er trug die Prüf- und Feststellungsergebnisse mit den Zeiten in ein Auswerteprotokoll ein- wieder Mal.

„Joshua? Ich kapier es nicht. Irgendetwas muss man doch erkennen. Wir haben doch immer Feststellungen. Aber hier? Ich bin jetzt schon bei der Firmenzentrale von S&B durch und schaue mir Überwachungskameras der Verkehrsleitstelle an. Aber ich werde nicht schlau daraus. Peter Bellamy kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Und selbst, wenn er zu Fuß bei S&B herausgekommen ist und sich wegbewegt hat- irgendwann muss er doch auch einmal in einer Sequenz zu sehen sein?"

Inspektor Joshua Willcox brütete in der anderen Ecke des großen Büroraumes bei seiner Auswertung über Buchhaltungsdaten. Mit einem Lineal glich er Kontenblätter und Buchungen ab, versuchte Belege zuzuordnen. Auch wenn S&B Coin Dreamer ein internationales Unternehmensgeflecht ausgebaut hatte- Willcox beschränkte sich nur auf die Aktionen der Londoner Zentrale.

„Wird nur nicht ungeduldig. Irgendwann wirst Du schon über eine Unregelmäßigkeit stolpern. Dann findest Du den roten Faden, den ich im Moment noch für mich suche.", bemerkte Willcox fast abwesend und tief eingetaucht in seine Analyse.

„Bei allen anderen normalen Vermisstensachen findet man etwas. Gerade in der Anfangsphase. Irgendwo fühlt sich der Flüchtende sicher und unbeobachtet, läuft durch ein Parkhaus zum Auto, fährt über eine Kreuzung, holt sich bei einer überwachten Bank Geld um zu verschwinden oder wird am Flughafen erfasst, wie er sich ein Sandwich kauft. Die allermeisten Sachen kann man in den ersten 72 Stunden locker irgendwo mit einer schlüssigen Erklärung belegen. Aber hier? Nichts."

„Bearbeite deinen Suchradius weiter, dann check einfach nochmal die öffentlichen Plätze. Bahnhöfe, Busstationen, Underground, Brücken, Flughafen. Und danach? Danach gehst du wieder zurück zu S&B und den Kameras dort und im Umfeld."

„Deine Ruhe möchte ich haben. Wie sieht es bei Dir aus?"

„Hier ist es weit weniger aufregend, als bei Dir. Abgerechnete Essen auf Kosten der Firma, Ausgaben für Blumensträuße und Catering, Leasingverträge für Fahrzeuge, Kaufverträge für Server. Auch ich suche hier die Nadel im Heuhaufen."

„Und?"

Wenn Tom Mannish auf ein Highlight gehofft hatte, so wurde er enttäuscht.

„Bislang gibt es nicht vieles, was vielleicht Hinterfragenswert erscheint. Dein Vermisster bezahlte zumeist mit Karte- so ziemlich alles. Kantine, tanken, Eintrittsgelder für Schwimmhalle oder Kino. Würde ich gefragt, dann möchte ich sagen, Peter Bellamy hat ein normales Leben geführt. Dabei lassen wir einmal seine immobilen Werte bei Seite. Schulgeld, Abrechnungen von Einkäufen über Bediensteten- Karten. Seine Familie leistet sich einen Koch, eine Nanny, eine Reinigungskraft für ihr Londoner Haus- alles jedoch gut entlohnte Servicekräfte. Zeitweilig sorgt bei Anlässen oder öffentlichen Auftritten eine Security auf Firmenkosten für seinen Schutz, jedoch nicht dauerhaft."

„Klingt eigentlich- normal, wenn man einmal außer Acht lässt, dass er so viel Geld verdient hat. Sogar seine Frau fliegt nicht durch die Welt. Sie könnten sich so viel mehr leisten." Tom Mannish malte sich aus, was man mit Milliarden an Geld alles privat erleben könnte.

„Ja. Zu dumm, dass die Handy- Ortung umsonst war. Da hatte ich wirklich mehr erhofft. Alles lag in seinem Büro. Es ist fast, als habe er nicht vorgehabt zu verschwinden." Joshua Willcox lehnte sich an seinem Platz einmal kurz zurück und machte sich an der Kaffee- Pad- Maschine zu schaffen, um sich neu zu versorgen.

„Ja. Und bei Frank Sutton sieht es ähnlich aus. Von jetzt auf gleich ins Koma."

„Irgendetwas ist an diesem Abend dort vorgefallen- die Spurenlage spricht doch Bände. Alles sieht mir nach einem Kampf oder Handgemenge aus. Und wenn ich hier Eins und Eins im überschaubaren Maß zusammenzählen muss, dann wird eben nur Zwei daraus. Ich denke, Sutton und Bellamy kamen ins streiten. Bellamy knockt Sutton dabei aus. Aber Sutton kann Bellamy auch noch verletzten- das würde Peter Bellamys Blut erklären. Bellamy sieht den reglosen Körper. Er bekommt die Panik und verwischt an Spuren, jedenfalls was er so denkt beseitigen zu müssen. Dass er dabei nicht alles erwischt, kann er ja nicht wissen- da sind wir ja heute schlauer. Und trotz seiner Panik ist er clever genug, sich irgendwie unbemerkt aus der zentrale zu schleichen und unter zu tauchen."

Tom Mannish sah es ebenso, wie es Willcox gerade geschildert hatte. Allerdings lagen ihm einige Sachen unliebsam quer daran.

„Aber Bellamy scheint ein Familienmensch zu sein. Er legt extrem viel Wert auf Privatsphäre, nimmt sich zeit für Frau und Kind. Er hat feste Routinen: Arbeitszeit- Familienzeit. Und das scheint ihm wichtig! Und keine Anrufe nach der Flucht bei seiner Frau? Kein: Du Schatz, ich habe eben Mist gebaut und muss mal untertauchen? Das Puzzleteil passt nicht."

Willcox brühte sich den Kaffee fertig und goss sich Milch dazu. „Ja. Genau. Irgendwas passt nicht."

„Ein Doppelleben vielleicht? Eine Geliebte?", fragte sich Tom Mannish wohl selbst gerade laut und hoffte auf eine Reaktion von Willcox.

„Bislang keine Hinweise. Aber wir sollten es im Augenwinkel behalten. Wir könnten Kim und Jane ja mit Spurenvermerken mal zu Hotels oder seinen anderen Immobilien schicken. Sie können uns derzeit ja auch kaum noch unterstützen. Die Vernehmungen sind ja fast alle durch nach all der Zeit. Bis dahin bleiben wir bei der S&B.", legte Joshua Willcox fest.

„Joshua? Wir haben noch nicht über Sutton gesprochen. Glaubst Du die Geschichte mit der Amnesie?"

„Ich bin kein Mediziner. Dem Befund nach kann es der Wahrheit entsprechen. Aber in den Kopf von Sutton kann man ja nicht hineinschauen. Vielleicht ist er ein hervorragender Schauspieler? Wie er so irritiert mit seinen Anwälten umgegangen ist? Alles sehr merkwürdig. Ich habe es deswegen auch erst einmal so hingenommen, bevor Uns die Anwälte wegen unverhältnismäßiger Beeinflussung oder grober Übermäßigkeit noch eine Körperverletzungsanzeige anhaften und wir den Fall damit los sind. Also: Ja! Derzeit muss ich die Geschichte glauben. Nur in welchem Maß die Amnesie besteht- das wäre die interessantere Frage."

„Hatten Felicia Banneman und Frank Sutton mal etwas am Laufen?" Tom Mannish versuchte sich sein Bild zurecht zu rücken.

„Spekulation. Komm! Machen wir weiter. Sonst bin ich hier raus aus meinen Gedanken."

„Okay."

Mannish und Willcox wendeten sich wieder ihren Analysen und Auswertungen zu.

Doch bevor Willcox wieder die Kontoblätter weiter abglich, hing auch er in seinen Gedanken noch bei Frank Sutton.

Bestimmt war da etwas zwischen Sutton und der Anwältin. Aber das war Neben- Kriegsschauplatz. Und man durfte nicht vergessen, dass ein Mann, der über sieben Monate im Koma bleibt, auch nur ein Opfer der Situation oder der Umstände war. Doch irgendwann wird sich auch Frank Suttons Schleier über dem Geist lösen. Und erst dann macht es Sinn, ihn noch einmal zu vernehmen.

Jetzt jedoch? Jetzt machte es wohl wenig Sinn und bringt nur Vorteile für die Gegenanwälte.

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