Die Kanzlei von Stowe & Banneman Rechtsanwälte war in einer der vielen Seitenstraßen des angesagten Londoner Nobelviertels Notting Hill.
Notting Hill dürfte außerhalb von London- zumindest außerhalb von Großbritannien wohl eher mit dem hier spielenden Film in Verbindung gebracht werden. Wer sich jedoch zumindest etwas besser auskennt, sieht darin ein angenehmes historisches Flair, welches dieser Stadtteil neben den anderen Stadtbezirken Kensington und Chelsea westlich des Hyde Park verströmt. Und diejenigen, die noch näher mit London zu tun haben oder hier wohnen oder arbeiten, schätzen die vielen kleinen grünen Oasen dieser noblen Gegend- vor allem am Ladbroke Grove und die alljährlichen Karnevalsumzüge von überregionaler Bekanntheit, die im August stattfinden.
In der prachtvoll restaurierten weißfarbenen Viktorianischen Villa belegte die Kanzlei die beiden unteren Stockwerke.
Das allein sprach für sich, denn in Notting Hill lebt nur, wer es sich auch leisten kann. Hier eine Anwaltskanzlei zu unterhalten, grenzt an ein kaum erschwingliches Unterfangen. Allerdings darf der ebenso erlesene Kreis an Klienten einer solchen Kanzlei auch gewiss sein, dass er- neben einem gepflegt wirkenden Umfeld und individueller Betreuung- auch an die Besten gekommen ist. Oberliga, wenn man dies unter Rechts- und Fachanwälten einmal so benennen darf.
Felicia Banneman war stolz, in dieser Oberliga der Anwälte mitspielen zu können. Harte Arbeit, ein langes Studium, große Abstriche im Privatleben- durch all dies hatte sich Felicia Banneman diese Position als Kanzleipartner verdient.
Und wofür das alles?
Diese Frage stellte sich für Felicia Banneman- und seltsamerweise sehr häufig seit dem letzten Jahr. Vor allem in den kleinen Momenten der Ruhe, oder am Ende des Tages. Besonders häufig in den Mittagspausen, in denen sie allein etwas zu Essen am Portobello Mark eingekauft hatte und sich auf einer Bank mit Blick auf den unansehnlichen Verkehr auf dem Westway ausruhte.
Immer wieder war neuerdings diese quälende Frage, die sich auch immer deutlicher für Felicia im Bewusstsein abbildete: Wofür das alles?
Es war ihre Arbeit, über die sie mit Frank Sutton in eine nähere Bekanntschaft gekommen war. Gemeinsam mit ihrem Kanzleipartner Cetric Stowe musste Felicia einen Rechtsstreit für die Firma S&B Coin Dreamer vor über zwei Jahren ausfechten. Seinerzeit war sie frisch in die Partnerschaft gelangt, wollte keinerlei Fehler zulassen und für den Mandanten stets nur das allerbeste herausschlagen. Dies zumeist auf Kosten der Gegenpartei.
Die Position von S&B war strittig, die Argumentation der amerikanischen Gegnerpartei und deren Rechtsbeistand sehr schlüssig. Dies bedurfte einer klaren Gegenstrategie und einer sicheren Gegenargumentation.
Damit gingen auch viele gemeinsame Termine einher.
Felicia Banneman bewunderte Frank Sutton. Er hatte aus dem Nichts ein wahres Software- Imperium geschaffen- immer noch zu weiteren Expansionen fähig und in der Lage. Und dies allein durch kluge Ideen und gesunde Marktentscheidungen. Frank Sutton und Peter Bellamy hatten eine ungenutzte Marktnische für Virtuell Reality Games entdeckt und für sich genutzt. Dabei hatten sie sich nie groß um die Finanzen gekümmert- es wurde zum Kassenschlager. Frank profitierte am Deutlichsten, da er auch die Entwicklungspatente für sich hatte. Frank Sutton war in der Lage zeitlos voraus zu denken und für seine Ideen immer Lösungen zu finden.
Peter Bellamy und Frank Sutton blieben dabei immer auf dem Boden, waren nie abgehoben.
Auch dies bewunderte Felicia Banneman- besonders bei Frank, dem als Single alles zu Füßen gelegen hätte. Auch aus der Frauenwelt. Und keine Affären mit Unterwäsche- Models oder Zechgelage in Bars oder Klubs. Keine Extreme, keine Allüren- einfach ein Mann von Nebenan, dem man Zucker borgen oder dem man das Haustier anvertrauen würde- nur, weil er so nett ist.
Dies war wohl auch der Punkt, weshalb sie Frank so interessant und männlich fand. Klugheit, Reichtum und Erfolg und doch der Mann von Nebenan.
Rein aus der Sicht einer Juristin waren Peter und Frank „die Guten". Sie waren fehl in der harten Welt der Geschäfte und des Geldverdienens.
Das war jedoch der Part von Benjamin Brown. Knallhart, auf Gewinnmaximierungen fixiert, Marktorientiert handelnd, kalkuliert handelnd. Und bereit, zur Erreichung seiner Ziele, die er wohl irrig auch als Ziele von Peter Bellamy und Frank Sutton annimmt, auch unlautere Wege zu beschreiten.
Benjamin Brown war das Gegenteil in der Firma S&B zu Frank und Peter. Partylöwe, eklige Gerüchte und Affären, Geld mit vollen Händen ausgeben.
Felicia Banneman wusste, wohin derzeit bei S&B Coin Dreamer die Fahnen im Wind wehten: Sie wehten für Benjamin Brown, wenn die abzuschließenden Verträge so durchgehen würden.
Cetric Stowe hatte bereits den Untergang von Frank Sutton und Peter Bellamy mitgetragen. Mehr noch: Stowe hatte von Lydia Bellamy bereits die Unterschriften beigeholt. Schamlos und indolent hatte er die schwache Frau in ihrem Seelennotstand einfach überrumpelt. Mit Versprechungen und mit viel Geld hatte Cetric Stowe eine sorgenfreie Zukunft vorgegaukelt und Peter Bellamy dadurch aus beruflichem Grunde verraten.
Nun würden sich alle Bemühungen gegen Frank Sutton richten.
Doch durfte so ein Unrecht wirklich Recht werden?
Und dann in dieser Art und Weise?
Sollte auch dem guten Frank so ein Szenario ereilen?
Grade jetzt? Nach dem Koma und unter Ausnutzung seiner kognitiven Schwäche durch die Erinnerungsverluste verursacht?
In Felicia arbeitete es.
Böse gegen Gut? Kommerz gegen Rechtschaffenheit? Anwaltsneutralität gegen Ehrlichkeit?
Felicia fasst für sich einen Entschluss an diesem Nachmittag in der Kanzlei: Sie entschied sich für die gute Seite.
Doch wo anfangen, nachdem sie in dem Chathamer Restaurant am Hafen bereits die andere Seite vertreten und Frank somit hintergangen hatte?
Offenheit.
Dies sollte aus Sicht der Anwältin der Weg zurück werden.
Offenheit und Dialog mit Frank Sutton. Und damit einhergehend auch die Aufklärung über Benjamin Browns korrupte Machenschaften und die oberflächliche Verschleierung von Vorteilsgaben an einen Polizisten. Dies alles musste endlich heraus und auf den Tisch.
Auch wenn sie Frank wohl nicht mehr für sich selbst zurückgewinnen würde- sie war es ihm einfach schuldig, mit offenen Karten zu spielen.
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Coin Dreamer
Fiksi IlmiahIn einer noblen Privatklinik erwacht ein Mann aus einem Komazustand. Obgleich sich der Patient verständigen kann und alles wahrnimmt, scheint seine Erinnerung vollkommen ausgelöscht. Doch es sind diese entfallenen Erinnerungen, welche für Scotland Y...