Kapitel 22

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Kapitel 22:



Amelie



In den letzten Tagen ist nicht wirklich viel passiert. Nach dem wir die Wahrheit erfahren haben, trainieren meine mittlerweile beste Freundin Kayla und Alina Tag täglich miteinander. Wir sind hier in der Jugendstrafanstalt schon richtig zusammen gewachsen, was die Zeit etwas erträglicher macht. Ich hab sie außerdem schon ins Herz geschlossen. Doch irgendwie ist es heute anders. Heute Morgen bin ich aufgestanden und hatte ein ungutes Gefühl, als würde etwas dunkles auf uns zu kommen. Vielleicht irre ich mich aber auch einfach nur. Ich kann es nicht sonderlich gut beschreiben.

Wir drei befinden uns gerade im Trainingsraum, als plötzlich eine Durchsage ertönt. „Liebe Insassen, ich bitte euch, euch sofort in den Innenhof zu begeben. Es gibt etwas, was die Gefängnisleitung bekannt geben möchte.“ Kaly, Alina und ich unterbrechen unser Boxtraining und schauen uns leicht verwirrt an. „Irgendwas ist hier Faul“, kommt es aus Kayla raus, die sich gerade ihre Handschuhe auszieht. „Wie meinst du das?“, frag ich sie sofort nach und nehme mir eine der Wasserflaschen. Mit den beiden zu trainieren macht echt Spaß. Allerdings passiert in letzter etwas, womit ich nicht umzugehen weiß. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie meine Blicke zu Kayla wandern. Manchmal kreuzen sie sich sogar. Und wenn wir trainieren, kommen wir uns auch ab und zu etwas näher, sodass mich ihre Nähe rot werden lässt.

Aber ich bin doch mit Leon zusammen? Ich bin glücklich mit Leon. Nur ich vermisse ihn ziemlich, da wir noch nicht lange zusammen sind. Dennoch tut mir die Freundschaft mit Kayla sehr gut und lenkt mich auch ein wenig ab. Vielleicht lenkt sie mich sogar ein wenig mehr ab, mit ihrer Anwesenheit. Vor ein paar Tagen war Leon hier und hat mich besucht, da er mit seiner Klasse auf Abschlussfahrt geht und mich nochmal sehen wollte, was echt süß von ihm war. Meine beiden Freundinnen haben in der Zeit trainiert, sodass Leon und ich in meine Zelle gehen konnten und etwas Zeit für uns hatten. Das haben wir natürlich ausgenutzt und hatten Sex. Verdammt guten Sex. Doch dann kam Kayla plötzlich in den Raum. Ich sprang sofort auf und hielt mir die Decke vor meinem Oberkörper. Aber irgendwie ist mir die Decke runter gefallen, sodass ich nackt vor ihr stand. Sie schaute mich einige Augenblicke an und wurde dabei rot. Und gestern waren wir auch noch zusammen duschen. Da hat sie mich auf einmal geküsst. Es war ein schöner Kuss, aber jetzt kreisen meine Gedanken nur noch mehr um sie. Ich hab keine Ahnung, was ich machen soll. Ich glaube, ich befinde mich in einer Zwickmühle.

„Amelie? Amelie?“, zerrt mich Kayla aus meinen Gedanken und schüttelt mich an der Schulter. Sofort laufe ich rot an, wobei sich Alina, die uns von der Seite aus beobachtet, sich ein Lachen nicht verkneifen kann. „W...Was ist denn?“, frag ich verlegen nach und nehme noch einen Schluck meines Wassers. Mir wird wieder ganz warm. „Wo bist du denn die ganze Zeit mit deinen Gedanken?“, möchte sie wissen und schaut mich an. „Ich hab nur kurz geträumt“, gebe ich zu und hoffe, dass ich nicht ganz so rot mehr bin. „Das hab ich gemerkt“, sagt sie und schmunzelt. „Wo waren wir denn stehen geblieben?“ „Ich hab gesagt, dass her irgendwas Faul ist und du hast daraufhin gefragt, was ich damit meine.“ Auf meinem Gesicht bildet sich der erhoffte aha Effekt. Jetzt ist es mir wieder eingefallen.

„Und? Wie meinst du das Kayla?“, hoffe ich jetzt von ihr zu erfahren . „Dieser Man da, der die Durchsage gemacht hat, ich kenne diese Stimme nicht. Es ist weder der Direktor unserer Jugendstrafanstalt, noch einer der Wärter, die hier arbeiten.“ „Und das weißt du woher?“ „Ich bin schon eine Weile hier und da hab ich mir die alle eingeprägt“, erklärt sie. „Deswegen weißt du auch, dass hier was Faul ist?“ Sie nickt. „Naja. Jetzt nicht so ganz. Aber ich hab einfach ein ungutes Gefühl bei der Sache.“ „Das hab ich ehrlich gesagt auch.“ „Und ich auch“, stimmt uns Alina zu. Wir drei müssen lachen.

„Kommt ihr bitte! Ihr habt die Durchsage gehört. Ab in den Innenhof“, wird unsere Unterhaltung unterbrochen. Einer der Wärter steht mit verschränkten Armen und ernsten Blick zwischen den Türen. „Oh. Tut uns leid. Wir wollten nur kurz noch aufräumen“, entschuldigt sich Kayla für uns drei und versucht dabei ihren Ton so freundlich wie möglich zu halten. Doch anscheinend scheint dem Wärter das nicht zu interessieren. „Ihre Ausreden können sie sich sparen Ms Shaw. Und jetzt nehmen sie ihre zwei Freundinnen und finden sich im Innenhof ein“, sagt er unhöflich. Sie heißt also Shaw mit Nachnamen. Wusste ich gar nicht. „Jaja. Ist gut. Wir haben es verstanden. Jetzt beruhigen sie sich mal“, antwortet Kayla und rollt heimlich mit den Augen. Alina und ich sagen nichts, sondern folgen hier. „Etwas schneller. Nicht einschlafen“, hetzt er sie und hilft mit dem Schlagstock nach.

Ein paar Minuten später sind wir dann auch endlich im Hof angelangt. Es ist echt laut hier, wenn sich alle Insassen auf einem Fleck befinden. Ich hätte nicht gedacht. Dass hier so viele Jugendliche inhaftiert sind. „Was war das denn für einer gerade?“, frag ich und meine damit den Wärter. „Das war Mr Boyd“, antwortet Kayla und stellt sich dicht an mich, wodurch mein Herz wieder meint, ein wenig schneller schlagen zu müssen. „Kennst du jetzt anscheinend auch schon alle Wärter hier beim Namen oder was“, will ich wissen und muss lachen. Sie schüttelt den Kopf. „Der Namen stand auf seiner Uniform. Vielleicht brauchst du ja eine Brille Amelie“, scherzt sie und streckt mir frech die Zunge raus. „Ehm ja gut. Peinlich“, sag ich nur. „Nicht schlimm. Alles gut“, versichert sie mir, was mich ein wenig beruhigt. „Kennst du ihn denn?“ „Nein. Das ist ja das Ding. Dieser Wärter kommt mir, genauso wie der Typ mit der Durchsage, nicht bekannt vor.“ Doch bevor ich antworten kann, werden wir von einem lauten Geräusch unterbrochen.

Ein Schuss löst sich und lässt uns alle zusammen zucken. Und in kürzester Zeit herrscht auf dem gesamten Innenhof absolute Ruhe. Alle schauen angespannt um her, um zu schauen woher der Schuss kam oder ob wer verletzt wurde. „Wo kam das her?“, will ich wissen und halte mich aus Reflex an Kaylas Arm fest. Sie wird ein wenig rot und  schaut mich an. „Ich hab keine Ahnung. Aber wo ist Alina?“ „Hier bin ich“, sagt sie und kommt zu uns rüber gelaufen. „Ich dachte, wir haben dich schon in der Menge verloren“, sagt sie zu ihr und zieht diese in unseren Kreis. „Hab ich auch schon gedacht, aber dann hab ich euch zum Glück doch gefunden. Hier in der  Menschenmenge kann man sich auch schnell verlaufen.“ „Da hast du recht Alina“, und stimme dem zu.

Und wieder ertönt ein Schuss. „Jetzt aber hab ich eure Aufmerksamkeit“, ertönt wieder die Stimme aus der Durchsage. Wir drehen uns alle um und sehen ein Mann im Blazer, der vor dem Haupttor des Innenhofes steht. Links und rechts von ihm stehen zwei der Wärter, wobei der zu seiner rechten dieser Mr Boyd von vorhin ist. Er strahlt eine unangenehme Aura aus, die ihn sofort unsympathisch macht. Hingegen der Mann im Blazer eher ruhig auf mich wirkt. „Sicherlich fragt ihr euch, aus was für einen Grund ich euch hier her bestellt habe“, macht er weiter. „Bin ich die einzige, die den Typen echt heiß findet?“, kommt es aus Kayla raus. „Ja das bist du. Ganz sicher“, antworten Alina und ich gleichzeitig und müssen ein bisschen kichern. Aber irgendwie hat sie schon recht. Er sieht echt gut aus. Doch schnell schüttel ich den Kopf und vertreibe meine zweideutigen Gedanken.

„Uns zwar treten ab jetzt ein paar grundlegende Veränderungen in Kraft“, teilt er uns mit. „Na was das wohl sein wird“, sagt Kayla und versucht ruhig zu bleiben. Ich bin auch schon ein wenig gespannt. „Das vielleicht wichtigste zu erst. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte ist, dass unser geliebter Direktor Mr Griffin von uns gegangen ist. Er wurde tot in seinem Büro aufgefunden.“ Meine Augen weiten sich. Ich wusste es. Mein Bauchgefühl hat sich nicht getäuscht. „Ich hab es euch gesagt Leute“, reibt sie uns unter die Nase. „Jaja Kayla. Ist gut. Und jetzt Mund halten. Wir wollen hören was dieser Typ uns zu sagen hat.“ Sie sagt nichts mehr, sondern streicht mit ihrer Hand leicht über meine, was mir einen angenehmen Schauer bereitet. Wie macht sie das nur?

„Und die gute Nachricht ist, dass ich ab sofort der neue Leiter der Lakeshore Jugendstrafanstalt bin. Mein Name ist Brandon Freeman, aber ich bitte euch, mich mit Mr Freeman anspricht. Zu meiner rechten steht unser neuer Oberwärter, Mr Boyd. Das war eigentlich schon wichtigste“, verkündet er. „Leute? Glaubt ihr die beiden stecken unter einer Decke?“, werfe ich in die Runde. „Wie meinst du das Amelie?“, werde ich von Alina zurück gefragt. Ich möchte ihr antworten, doch Kayla grätscht mir dazwischen. „Na überlegt doch mal. Mr Griffin wird plötzlich tot aufgefunden und dann tauchen zwei  neue Leute hier auf.“ „Aber das muss ja nicht automatisch heißen, dass die beiden was im Schilde führen oder?“, argumentiere ich.

„Ich möchte einfach nicht, dass irgendwas mit uns passiert. Wisst ihr? Wir drei sitzen hier unschuldig ein und da muss es uns nicht noch schlechter gehen.“ Alina und ich stimmen dem lächelnd zu. „Wir wollen doch auch nicht das uns was passiert. Und jetzt wo ich so darüber nach denke, könntest du vielleicht sogar recht haben, mit deiner Theorie“, antworte ich ihr. „Findet ihr? Ich will nicht so rüber kommen, als wäre ich irgendwie verrückt oder so. Versteht ihr was ich meine?“, fragt sie uns und schaut verlegen zur Seite. „Wir verstehen dich Kayla. Aber mach dir bitte nicht so viele Gedanken. Es ist alles gut.“ Auf ihrem Gesicht bildet sich ein Lächeln und bei meinen Worten werden ihre Wangen ein wenig rot. Wie süß das aussieht. „Das bedeutet mir echt viel . Danke. Ich bin froh euch meine Freunde nennen zu dürfen.“ „Ich glaube mittlerweile sogar schon beste Freundinnen“, ergänzen Alina und ich. „Wir halten zusammen. Komme was wolle“, sagt sie, nimmt unsere Hände und schaut uns an. „Genau. Uns kann nichts trennen.“

Die Menschenmenge löst sich langsam, Stück für Stück wieder auf. Die Insassen gehen zurück zu dem was sie gemacht haben. „Wollen wir wieder zurück in den Trainingsraum?“, frag ich die beiden. „Aber nicht mehr so lange für heute. Wir waren schon echt gut heute.“ Nickend stimme ich zu. Doch als wir gerade vom Innenhof aus ins Gebäude gehen, wird uns der Weg versperrt. Wir bleiben abrupt stehen und laufen fast gegen Mr Freeman. Erst beim näheren hinsehen merke ich, wie gut ihm dieser schwarze Blazer steht. Er trägt ein weißes T-Shirt und die passende Hose zum Blazer. Seine Haare sind zerzaust und sein gut gepflegter Bart macht ihn noch attraktiver.

„T...Tut uns leid. Das war keine Absicht. Wir haben sie zu spät gesehen“, kommt es peinlich aus mir heraus. „Wo wollen sie drei denn hin, wenn man fragen darf?“ Seine Stimme hat etwas an sich, was ich nicht beschreiben kann und sein leichter britischer Akzent ist nicht zu überhören. „Wir wollten zurück in den Trainingsraum“, erkläre ich so nett wie möglich. Mr Freeman macht bis jetzt einen recht netten Eindruck. Doch wie ich aus der Vergangenheit bereits gelernt habe, kann der Schein auch echt trügen. Meine neuste Theorie: Er steckt mit Sean Vans unter einer Decke. Wie ich in so kurzer Zeit darauf gekommen bin? Alina meinte ja mal, dass sie hier her geschickt wurde, um mich auszuschalten. Was ist, wenn Mr Vance ihr versagen herausgefunden hat und ihn dafür eingestellt hat, damit er die Aufgabe beendet? Wenn das der Fall sein sollte, dann müssen wir drei gewaltig aufpassen. Es fühlt sich so an, als könnte man keinem mehr hier trauen.

„Was für eine sportliche Aktivität wollen die dort den ausüben?“, hakt er nach und verschränkt seine Arme, vor seinem Oberkörper. Er scheint ganz schön neugierig zu sein. Wenigstens ist der nicht die ganze Zeit im Büro, wie Mr Griffin vor ihm. „Wir wollten weiter boxen“, antwortet Kayla, bevor ich das kann. „Ach so. Hmm. Oki. Folgen sie mir bitte“, sagt er und geht voran. Wir drei schauen uns verwirrt an. „A...Aber wir wollten doch...“, stottere ich und werde sofort von ihm unterbrochen. „Sie wollten mir folgen“, beendet er den Satz in einem strengen, leicht lautem Ton. Kayla und Alina sagen nichts weiter, sondern folgen ihm einfach. Mein Körper spant sich an. Was hat er vor? Wo bringt er uns hin. Allerdings beruhige ich mich schnell wieder, als ich merke, wo wir hin gehen.

Wir befinden uns in seinem Büro. Es sieht ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Er muss es komplett umgeräumt haben. Meine Freundinnen und ich sitzen an einem hölzernen Tisch, welcher in der Mitte des Raumes steht und gegenüber von uns hat es sich unser neuer Direktor gemütlich gemacht. „Möchtet ihr was trinken?“, fragt er uns gleich zu beginn. „Gerne“, sagen wir gleichzeitig. Brandon stellt drei Whisky Gläser auf die Tischplatte und gießt diese mit einer braunen Flüssigkeit halb voll. „Das ist Alkohol“, kommt es aus mir heraus und ich verziehe leicht das Gesicht. Doch dann weiten sich meine Augen, als ich erkenne ich, um was für einen  Alkohol es sich handelt. Meine Theorie wird dadurch ein wenig mehr unterstrichen. Aber was genau hat er bloß vor?

„Das bleibt natürlich unter uns“, antwortet er und zwinkert uns dreien zu. Ich sag nichts dazu, sondern nehme mein Glas und setze es direkt an meine Lippen an. Die braune Flüssigkeit brennt in meiner Kehle und lässt mich von innen wieder ganz warm werden. „Wollen sie uns vielleicht nicht erst mal verraten, warum meine beiden Freundinnen und ich jetzt hier sitzen müssen?“, will ich wissen und gehe direkt in die Offensive. „Natürlich. Wie unhöflich von mir“, entschuldigt er sich und nimmt ebenfalls einen Schluck. Irgendwie ist er mir sympathisch. Aber davon darf ich mich nicht beeinflussen lassen. Er hört definitiv nicht zur Guten seine, auch wenn es auf dem ersten Blick vielleicht so aussieht.

„Wenn ich mich nicht irre, dann seid ihr Amelie Stone, Kayla Shaw und Alina Andrews.“ Wir drei nicken. „Das sind wir“, sag ich noch dazu. „Und weiter?“ Er dreht sich zu einem der Schränke um und legt drei Akten auf den Tisch. Es sind unsere Akten, was ich an den Bildern von uns erkennen kann. „Ich hab mir im Vorfeld mal eure Akten angeschaut“, erzählt er und schaut sie noch mal an. Alle von uns sind mehr als nervös. Und als Mr Freeman die  von Kayla durchblättert, greift sie unter dem Tisch nach meiner Hand. Ihre Hand schwitzt. Und jetzt versteh ich auch, warum. „Die eigene beste Freundin ermordet...“, kommt es aus ihm heraus. Er lässt die Seite offen, sodass auch Alina und ich es sehen. Es sind die Tatort Bilder, wo man sieht, wie ihre Freundin Lea dort tot und voller Blut auf dem Boden liegt. Der Anblick muss für sie schrecklich sein.

Kayla drückt meine Hand immer fester. Ihr scheint das Thema sichtlich zu schaffen zu machen. Merkt er das etwa nicht? Anscheinend ja nicht. Ich streiche mit meinem Daumen leicht über ihren Handrücken, in der Hoffnung sie so ein bisschen zu beruhigen. „Möchten sie nichts dazu sagen Ms Shaw?“, fragt er und mir fällt fast die Kinnlade runter. Das ist jetzt nicht sein ernst? Was soll sie denn bitte dazu sagen? Kalya schüttelt nur mit dem Kopf. „Ich hab sie nicht richtig verstanden. Sie müssen etwas lauter reden.“ Mr Freeman nimmt eines der Bilder und legt es vor sie hin, sodass sie regelrecht drauf schauen muss. Sie fängt neben mir an zu zittern und merke, wie eine Träne ihr über die Wange läuft. Kayla versucht stark zu bleiben, doch auch ihr Eis wird demnächst gebrochen sein und wie ich sie mittlerweile kenne, kann dieses Mädchen manchmal echt temperamentvoll sein.

Leise und mit zittriger Stimme versucht sie etwas über ihre Lippen zu bringen, allerdings scheitert sie beim zweiten Versuch. „Sehen sie nicht, wie fertig sie das alles gerade macht?“, keife ich Mr Freeman an und bin immer noch fassungslos. Aber anscheinend lässt ihm das kalt, denn sein ernster Blick ist weiterhin auf Kayla gerichtet, die immer mehr von ihm eingeschüchtert wird. Sie tut mir so leid. Ich wäre an ihrer Stelle bereits an die Decke gegangen. „Halten sie sich da raus Ms Stone. Ich rede nicht mit ihnen“, bittet er mich. Hat er gerade? Hat er mir gerade ernsthaft das Wort verboten? Frechheit. „Also die gleiche Frage noch mal Ms Shaw. Haben sie nichts dazu zu sagen? Verspüren sie keine Reue? Oder wie hat es sich angefühlt, als sie ihre Freundin kaltblütig erschossen haben?“ Er richtet sich auf und beugt sich leicht über den Tisch. „Sagen sie es mir Kayla. Wie hat sich das angefühlt?“

Ich drehe gleich durch. Wenn dieser Mr Freeman noch weiter so macht, dann reiße ich ihm eigenhändig das Herz aus der Brust. Wie kann man nur so grauenvoll zu einem Mädchen sein, welches ihre Freundin tot aufgefunden hat? Ich  verstehe es einfach nicht. Und ich dachte noch, Brandon sei nett. Aber wie gesagt, manchmal trügt der Schein. Kaylas Griff löst sich auf einmal und ich schaue sie von der Seite an. Mittlerweile kann man erkennen, wie sie vor Wut kocht. Sie ist wie eine tickende Zeitbombe, welche jeden Augenblick in die Luft gehen kann. Selbst ich bekomme es ein wenig mit der Angst zu tun.

Und dann explodiert Kayla und man kann sie nicht mehr aufhalten. „Ich habe mich versucht zusammenzureißen, doch sie machen es mir unmöglich“, kommt es wie eine Kanone aus ihr heraus geschossen. Ihre Stimme kann sie gerade noch so freundlich halte, dennoch lässt sie Alina und mich kurz zusammenzucken. Wie ich ihr Temperament liebe. „Ich bin ganz Ohr“, sagt er und  selbst dafür könnte ich ihm schon eine klatschen. „Was fällt ihnen eigentlich ein mir so etwas zu unterstellen Mr Freeman?“ „Na die Beweislage ist ja Glasklar“, behauptet er. „Und jetzt hören sie auf mir die ganze Zeit dazwischen zu reden. Das mach ich ja auch nicht.“ Er möchte etwas dazu sagen, doch ihr Blick lässt ihn einschüchtern, sodass er es lässt.

„Nur weil irgendwas in meiner scheiß Akte steht, muss es noch lange nicht stimmen. Sie waren nicht dabei, als es passiert ist. Sie haben keine Ahnung. Ich wurde mit Chloroform betäubt und als Lea wieder aufwachte, war sie bereits tot.“ Mr Freeman lehnt sich nach hinten und nippt an seinem Alkohol, als wäre das hier ein stinknormales Gespräch. Wie kann man nur so ruhig und gelassen drauf sein? Ich versteh das nicht. „Das sagt die Staatsanwaltschaft und vor allem die Beweislage, aber etwas ganz anderes“, kontert er und fixiert sie mit seinem Blick. „Soll ich ihnen mal etwas sagen?“ Brandon nickt. „Ich. Gebe. Einen. Scheiß. Auf. Die. Staatsanwaltschaft!“, antwortet sie voller Wut. Beide schauen sich tief in die Augen und es sieht schon fast so aus, als würden zwischen ihnen Blitze hin und her geworfen werden, wer der Stärkere ist. Ein Alpha Tierkampf.

„Ich mag ihre Art Ms Shaw. Das gefällt mir. Sie haben ein tolles Temperament“, meint er und es ist ein wenig erstaunlich, wie er nicht mal mit der Wimper zuckt. „Sie kennen mich nicht Mr Freeman. Sie kennen mich kein bisschen. Also hören sie gefälligst auf, mir so etwas zu unterstellen“, macht sie weiter. Ich tausche mit Alina kurz ein paar seitliche Blicke aus, die selbst nicht wirklich weiß, was sie machen soll. „Sonst was?“, provoziert er sie ein wenig. Kayla trinkt ihr Glas aus, bevor sie antwortet. „Sonst werde ich eigenhändig ihr Herz aus der Brust reißen und sie hier elendig sterben lassen.“ Eyy. Das war meine Idee. Ich lege meine Hand auf ihren Oberschenkel, streiche ein wenig darüber und versuche sie zu beruhigen. Ob das was bringt?

„Und durch die Aktion wollen sie mir weiß machen, dass sie unschuldig sind? An ihrer Stelle wäre ich vorsichtig. Machen sie weiter so und ich sorge dafür, dass sie noch ein paar Jahre hier bleiben“, sagt er und bringt sie damit nur noch mehr auf 180. Meine Streicheleinheiten auf ihrem Oberschenkel verstärken sich. Ich möchte ungern, dass Kayla hier drin ausrastet. Sie kann ihre Aggressionen, welche sich gerade in ihr sammeln, naher hoffentlich beim boxen wieder raus lassen. „Legen sie sich nicht mit mir an Mr Freeman. Diesen Kampf werden sie verlieren. Das schwöre ich bei Gott.“ Brandon kann sich ein Lachen nicht verkneifen. „Glauben sie mir Ms Shaw. Mich wollen sie nicht zum Feind haben.“ Er hällt kurz inne und schaut Alina und mich dabei an. „Und ihre Freunde sicherlich auch nicht.“ Mir läuft es dabei eiskalt den Rücken hinunter und leichte Panik breitet sich in mir aus. Wie meint er das? Was hat er mit uns vor? Oder lügt er bloß, um Kayla wieder unter Kontrolle zu kriegen. Doch wenn sie einmal los legt, kann sie kaum einer mehr aufhalten.

„Lassen sie Amelie und Alina da raus. Die beiden haben nichts damit zu tun. Das hier ist ganz allein eine Sache zwischen ihnen und mir“, macht sie weiter und steigert sich dabei immer mehr rein, was sie selbst gar nicht mehr merkt. Ich kneife vorsichtig in ihr Bein, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Was ist?!“, werde ich sofort angefahren. Ihr Blick ist grimmig und wütend, doch dann ändert es sich in Traurigkeit und Schuldgefühl. „T...Tut mir leid Amelie. D...Das wollte ich nicht. Ich wollte dich nicht so anmachen“, entschuldigt sie sich bei mir und schaut mich an. „Kayla denkst du nicht, es ist langsam Zeit auf zu hören? Schau mal wie du dich hier rein steigerst. Das führt doch zu nichts mehr. Lass es bitte gut sein. Mr Freeman sitzt einfach am längerem Hebel. Da hast du keine Chance. Und wir beide wollen ungern, dass dir etwas passiert“, rede ich mit ruhiger Stimme auf sie an und lege dabei meine Hand auf ihre. Ich hoffe das hat jetzt etwas gebracht.

„Deine Freundin hat recht. Hören sie auf Ms Shaw. Das bringt nichts mehr. Wenn sie sich mit mir anlegen, dann ziehen sie auch Ms Andrews und Ms Stone mit rein.“ „Aber lassen sie sich eins sagen Mr Freeman. Sie kennen mich ganz sicher nicht und sollte ich merken, dass sie irgendwas gegen mich unternehmen wollen, dann bekommen sie es mit mir zu tun. So war mir Gott helfe“, macht sie ihm klar und innerlich haue ich mir gegen die Stirn. Ein kurzer Blick zu Alina verrät mir, dass es ihr ebenso geht. Ich kann mir ein kleines schmunzeln nicht verkneifen. „Ich kenne sie ehrlich gesagt ziemlich gut Ms Shaw.“ Kayla macht sich gerade und wird leicht nervös. In ihrem Gesichtsausdruck lässt sich ablesen, dass sie damit nicht gerechnet hat. Darauf war sie nicht vorbereitet.

Sie sagt nichts, sodass Mr Freeman einfach weiter macht. „Ihre Mutter heißt Alice. Sie wurde am 05.10.1975 in Lakeshore geboren. Ihr Dad ist Miles Shaw, der vier Jahre früher, am 11.03.1971 geboren wurde. Alles war perfekt. Sie haben von ihren Eltern alles bekommen was sie wollten“, erklärt er. „Das muss noch gar nichts heißen“, sagt sie und rollt mit den Augen. „Bis ihr Bruder Emmett die Welt am 01.07.2010 erblickte.“ Ich wusste gar nicht, dass sie einen kleinen Bruder hat. Kayla greift wieder nach meiner Hand und drückt diese fest. „Ab da hat sich alles geändert. Sie standen nun nicht mehr im Mittelpunkt. Ihre Eltern haben sie kaum noch beachtet. Doch sie hatten Gllück Ms Shaw. Denn ihre damalige beste Freundin Lea blieb weiterhin an ihrer Seite.“ Ihr läuft eine Träne die Wange hinunter.

„Bis Lea erschossen wurde und ich dafür beschuldigt wurde“, antwortet Kayla und fängt an zu zittern. Ich lege schützend einen Arm um sie, doch es hört nicht auf. „Was ihre Eltern wohl dazu sagen? Sie sindd sicher sehr enttäuscht von ihnen. Die einzige Tochter ermordet ihre eigene beste Freundin auf einer Konfirmationsfeier.“ Ich kenne Kayla mittlerweile ein wenig um zu wissen, dass sie sich jetzt am liebsten wehren würde und ihm sagen, dass sie es nicht wahr. Doch ihr fehlt sichtlich die Kraft. Ihre Kräfte lassen nach.

„Wenn sie mich doch so gut kennen Mr Freeman, dann wissen sie doch was dann passiert ist.“ Brandon nickt. „Natürlich weiß ich das.“ „W...Was ist dann passiert?“, frage ich vorsichtig nach und schaue zwischen den beiden hin und her. „Wollen sie es ihrer Freundin sagen?“ Kayla schüttelt den Kopf. „Machen sie das“, kann sie nur sagen und starrt auf die Tischplatte. Er hat sie geschlagen. Sie wurde besiegt. Brandon Freeman hat Kayla Shaw Schachmatt gesetzt. Die so starke Königin ist gefallen und der attraktive König hat gewonnen.

„Nach dem Kayla verhaftet wurde, hat sie bitterlich gehofft, dass sie Unterstützung von ihren Eltern bekommt. Doch das hat sie nicht. Ganz im Gegenteil. Ms Shaws Eltern  haben sich getrennt. Alice, ihre Mum hat sich von ihrem Ehemann geschieden und das alleinige Sorgerecht für Emmett bekommen.“ Das ist schrecklich. Das hat sie nicht verdient. Das hätte ich aber auch nicht gedacht. Sie lässt sich nichts anmerken. Eine harte Schale umgibt sie, doch diese wurde eben gebrochen. „Soll ich weiter machen?“, fragt er nach. Kayla nickt nur ganz leicht und hält ihren Blick weiterhin auf die Tischplatte. Ob sie wohl gerade an ihre Familie denkt?

„Emmett bekam nicht mal die Chance sich von seiner großen Schwester zu verabschieden. Er wurde einfach aus der Familie gerissen. Er und seine Mum zogen daraufhin nach Florida, soweit ich weiß. Die beiden haben sich danach nie wieder bei ihrer Tochter gemeldet.“Kaylo verschränkt ihre Finger mit meinen, was sie anscheinend ein wenig beruhigt, weshalb ich es einfach zulasse. „U...Und was ist mit ihrem Dad?“, möchte ich wissen und habe ein wenig Angst, ihr dabei zu Nahe zu kommen. „Miles, ihr Dad hat sich nach  ihrer Verhaftung noch ein wenig um seine Tochter gekümmert. Doch dann ist er plötzlich verschwunden. Von heute auf morgen. Einfach weg.“

Und dann passiert es. Kaylas Fassade bricht endgültig und sie fängt an zu weinen. „Hören sie auf! Bitte. Bitte hören sie auf“, fleht sie ihn an. Schluchzend wischt sie sich übers Gesicht und versucht ihn anzuschauen. Es herrscht für einen kurzen Moment Stille. Die beiden schauen sich einfach nur an und es fühlt sich so an, als würden sie ihre Gedanken miteinander teilen. „Ist in Ordnung Ms Shaw. Ihr drei seid für den Rest des Tages befreit. Tut mir leid für die Unannehmlichkeiten. Wir sehen uns morgen wieder“, gibt er nach. Mr Freeman steht auf und öffnet uns die Tür. Kayla ist die erste die aufsteht, gefolgt von Alina und mir. „Kayla“, rufe ich ihr hinter her, welche das Tempo beschleunigt. „Lasst mich“, antwortet sie nur.

Nur die Vergangenheit kennt die Wahrheit 4Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt