Kapitel 28 - vorletztes Kapitel

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Kapitel 28:



Lea



Das Telefonat geht schon gefühlt eine Ewigkeit. Warum brauchen die bloß so lange? „Danke ihnen. Ich komme dann vorbei. Ihnen einen schönen Tag noch“, wünscht er der Person am anderen Ende. Keine Minute später legt er dann auch auf. Mit seiner starken Hand fährt sich Mr Garroway übers Gesicht. Er sieht sichtlich überfordert aus, was ich sogar ein bisschen verstehen kann. Welcher normale Mensch schafft es schon, sich selbst anzuzeigen? Und dann auch noch wegen sowas schwerwiegendem. Einer Vergewaltigung. Ich wüsste nicht, ob ich das schaffen würde. Da ist meine Angst vor den Konsequenzen viel zu hoch. Denn ich möchte echt nicht ins Jugendgefängnis.

„Und? Wie war es?“, will ich sofort neugierig von Alaric wissen. Doch statt mir zu antworten, nimmt er sein Glas und setzt es an seinen Lippen an. „Ehrlich gesagt besser als gedacht. Ich hab es mir viel schlimmer vorgestellt“, schildert er und merke, dass er die Wahrheit sagt. „Sie sehen aber ziemlich überfordert auf“, weise ich ihn daraufhin und muss ein bisschen schmunzeln. Nickend stimmt er mir zu. „Das war, beziehungsweise bin ich immer noch Ms Scott.“ „Sie können mich Lea nennen“, biete ich ihm an, was er auch sofort mit einem Nicken annimmt. „Ich hatte ein bisschen Panik und war tierisch nervös. So etwas hab ich noch nie gemacht. Noch nie hatte ich in irgendeiner Art und Weise ein Problem mit der Polizei. Aber zum Glück war die Beamtin echt nett. Zumindest klang es am Telefon so“, erklärt er mir.

„Das haben sie gut gemacht. Bin stolz auf sie. Aber wie wird es denn weiter gehen?“, fragt ich Mr Garroway interessiert. „Die Frau meinte, dass ich in den nächsten Stunden vorbei kommen soll.“ „Und was wird das für juristische Konsequenzen haben?“ „Da ich mich sozusagen freiwillig gestellt habe, wird das mit bewertet. So genau kann ich es ihnen auch nicht sagen. Das erfahre ich dann alles naher.“ Ich weiß ehrlich gesagt nicht so recht, was ich von einer Strafmilderung halten soll. Klar bereut Alaric es, aber dennoch hat er Gracie verletzt. Und das nicht gerade sanft. Das darf ich nicht vergessen. „Sie haben die richtige Entscheidung getätigt.“ „Findest du Lea?“ Ich nicke. „Auf jeden Fall besser, als wenn sie gewartet hätten, bis es von selbst ans Tageslicht kommt“, antworte ich und lächel.

„Da hast du recht. Ich kann es nur noch mal wiederholen. Es tut mir unfassbar leid, was ich getan habe. Es war nie meine Absicht, Gracie zu vergewaltigen“, entschuldigt er sich erneut bei mir, was mir noch einmal zeigt, wie sehr es ihm leid tut. „Und wie ich vorhin schon gesagt habe, können wir das geschehene leider nicht mehr zurück nehmen. Auch wenn wir es gerne tun würden. Allerdings können wir die Zukunft beeinflussen. Zum Beispiel bin ich mir ziemlich sicher, dass sie sowas nicht noch mal machen“, sag ich und  überkreuze meine Beine. „Auf jeden Fall. Das war der größte Fehler meines Lebens.“ Das glaube ich ihm sofort.

Es herrschen ein paar Minuten stille im Raum. „Kann ich dich was fragen Lea?“ „Natürlich“, antworte ich und bin auf seine Frage gespannt. Ich bin es echt schön, dass das Gespräch hier so gut verläuft. Hab irgendwie mit dem Gegenteil gerechnet. Das ich zum Beispiel laut werden muss oder so. Aber so war es nicht. Ich hatte mich gut unter Kontrolle. Da hat Mr Garroway noch mal Glück gehabt. Ansonsten wäre ich ihm sicher an die Gurgel gegangen. „Glaubst du, dass sie wiederkommt ?“, fragt er mich, mit ruhiger Stimme und zeigt auf das Familienfoto von vorhin. Sofort wird mir ein wenig warm ums Herz. „Sie meine nJacy, ihre Tochter?“, hinterfrage ich vorsichtshalber. Nicht das ich irgendwas falsches sage.

„Genau. Meine Frau ist tot und meine Tochter verschwunden, wenn sie nicht schon längst tot ist.“ „Sagen sie sowas nicht. Sie ist bestimmt noch irgendwo da draußen“, mache ich ihm Hoffnung. Wenn seine Tochter wirklich tot sein sollte, was ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dann würde es ihm endgültig den Boden unter den Füßen reißen. Dann kann selbst ich ihm nicht mehr helfen. Das darf deswegen auf gar keinen Fall passieren. „Ich kann sie nicht auch noch verlieren. Dann hab ich nur noch meinen Bruder Magnus. Aber der ist gerade was weiß ich wo, auf der Welt.“ Ich weiß ganz genau wie er sich gerade fühlt. „Sie vermissen sie extrem oder?“, fragt ich leise, schon fast kaum mehr hörbar. Alaric nickt nur. „Sehr sogar. Unbeschreiblich. Jacy fehlt mir. Es vergeht kein Tag, wo ich nicht an sie denke“, erfahre ich. Mir können fast die Tränen und ich muss krampfhaft mit ihnen kämpfen, diese nicht laufen zu lassen.

Jetzt wo ich so darüber nach denke, fehlt mir meine Familie. Zumindest meine Eltern und vor allem meine verstorbene Zwillingsschwester Leonie. Wenn sie sich doch damals nicht für mich geopfert hätte. Aber dann wäre ich ziemlich sicher an ihrer Stelle tot gewesen. Und wie als könne er meine Gedanken lesen, bemerkt er, wie emotional ich gerade geladen bin. Ich bin wie eine tickende Bombe. Nur das ich nicht mit Sprengstoff gefüllt bin, sondern mit Tränen. „Hier“, kommt es aus Mr Garroway heraus und reicht mir ein Taschentuch. „Danke“, kann ich nur sagen und lasse es auch gleich zum Einsatz kommen. „Ich weiß wie sie sich gerade fühlen Alaric. Ich kann voll und ganz nachvollziehen, dass sie ihre Tochter vermissen. Denn wenn ich ehrlich bin, geht es mir nicht gerade besser“, gebe ich zu. Etwas verwirrt schaut er mich an.

„Wie meinst du das Lea?“, möchte er wissen. „Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll.“ Und ich weiß auch gar nicht, ob ich es ihm überhaupt erzählen will. Kann ich ihm denn vertrauen? Was ist, wenn er mich verrät? Schnell schüttel ich innerlich, meinen Kopf. Das würde er nicht tun. Ich habe ihm gerade geholfen. Ich muss langsam lernen, anderen wieder zu vertrauen. Dann wird das hier eine gute Übung dafür sein. „Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht möchtest. Aber ich hab das Gefühl, dass es dir helfen wird“, sagt er und schenkt mir ein warmes Lächeln. Ein Lächeln, welches ich nicht erwartet hätte, als ich diesen Raum betrat. Diese kleine Geste, hilft mir gerade enorm. „Ich denke sie haben recht Alaric. Danke.“ „Du schaffst das“, hängt er noch die fehlende Motivation hinten dran.

Ich atme noch mal kurz tief ein und aus, bevor ich meinen gefühlt, halben Lebenslauf erzähle. „Genau wie sie habe ich eine mir sehr nahestehende Person verloren“, fange ich an und erinnere mich sofort wieder , an den besagten Abend. „Wer war sie?“, möchte er wissen und schaut mich mitfühlend an. „Meine Zwillingsschwester. Ihr Name ist Leonie.“ Mit meinem Taschentuch wische ich mir rasch ein paar Tränen weg. Die Überforderung macht sich in mir breit. Ich hab nie wirklich mit jemanden darüber gesprochen, außer Elijah und Dylan. Aber die beiden sind eine Ausnahme. „Das tut mir leid Lea. Sie war sicher eine tolle Schwester“, versucht er mich, ein wenig aufzumuntern. Doch es kommt bloß zu einem kleinen Schmunzeln. Immerhin. „Das war sie.“ Er schaut mich mit einem Blick an, der mir sofort verrät, was jetzt kommt.

„D...Darf ich fragen....?“, „Woran meine Schwester gestorben ist?“, unterbreche ich Alaric und beende für ihn den Satz. Er nickt. „Leonie wurde umgebracht.“ Binnen weniger Sekunden verändert sich die Farbe seines gebräunten Gesichtes zu einem starken blass Ton. Hoffentlich fällt er mir jetzt nicht um. „Damit hab ich jetzt nicht gerechnet. Das muss dann noch mal eine Stufe höher als schlimm sein oder?“ Ich gebe nur ein nicken von mir. Schon jetzt merke ich, wie gut mir dieses Gespräch tut. „Meine Schwester hat sich geopfert, um mich zu beschützen.“ „Was ist denn passiert?“, fragt er nach und legt vorsichtig ihre Hände auf meine, um mich ein wenig zu beruhigen. „Das ist eine ziemlich lange Geschichte“, antworte ich und fahre mir durchs Haar. „Kurzfassung?“, schlägt er vor und lächelt. Nickend stimme ich dem zu.

„Mein Onkel ist ein Arsch. Er und meine Eltern hatten Streit. Irgendwie hat meine Schwester herausgefunden, dass mein Onkel mich tot sehen will. Deswegen hat sie vorgeschlagen, sich als mich auszugeben, da wir ziemlich gleich aussehen.“ Sichtlich merke ich, wie Alarics Augen jeden Moment raus fallen. „U...Und das hat funktioniert?“ „Während der Konfirmation meiner Cousine wollten wir es dann durchziehen. Meine Schwester und meine beste Freundin Kayla gingen hoch. Alles war gut, doch dann wurde Kayla betäubt. Als sie aufwachte, lag sie vor ihr. Leonie war tot und meine beste Freundin hielt die Tatwaffe in den Händen. Sie wurde verhaftet und sitzt jetzt in einer Jugendstrafanstalt“, fasse ich zusammen und wische mir erneut die Tränen weg.

„Dann sitzt sie ja unschuldig fest. Für etwas, was sie niemals getan hat“, stellt er fest. „Sie erfassen es Mr Garroway. Doch leider sprechen die Beweise gegen ihre Unschuld“, antworte ich und schaue auf die Tischplatte. Das nimmt mich doch etwas mehr mit, als gedacht. Aber es tut auch ziemlich gut, darüber zu reden. „Weißt du Lea, ich denke immer, dass das was meiner Familie passierte, schlimm sei. Aber das von dir gerade, beweist das Gegenteil. Es gibt Menschen, denen es schlechter geht. Bei denen viel schlimmeres passiert ist. Wie bei dir Lea.“ „Das haben sie echt toll gesagt Alaric“, gebe ich zu und kann nun wieder ein wenig mehr lächeln. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, dann lass es mich wissen“, bittet er mich. „Sie haben mir schon geholfen, in dem sie mir zugehört haben.“ „Wirklich?“, hinterfragt er unsicher. Ich nicke. „Auf jeden Fall. Es tat um ehrlich zu sein echt gut. Darüber zu reden. Vor allem mit jemanden, der auch wen verloren hat.“ „Das freut mich sehr.“

„Und zurück zu ihrer Frage, ob ich glaube, dass Jacy irgendwo da draußen ist. Ja. Ich denke das ist sie.“ „Glaubst du?“, will er wissen. In seinen Augen bildet sich ein wenig Hoffnung. Auch wenn es nur ein kleines bisschen Hoffnung ist, wissen wir, was ein kleiner Funke davon auslösen kann. „Ihre Tochter wird zu ihnen zurück finden. Da bin ich mir sicher.“ „Danke. Das bedeutet mir gerade echt viel“, kann er nur sagen. Er hofft wirklich, dass Jacy zurück kommt. Auch wenn ich dieses Mädchen noch nicht kenne, wünsche ich mir dennoch, dass sie zurück zu ihrem Dad findet. Eine Tochter braucht ihren Dad. Egal was in der Vergangenheit passiert ist.

„Hat Jacy vielleicht etwas, was sie an sie erinnert?“, möchte ich wissen. „Meinst du sowas wie eine Art... Glücksbringer?“ „Genau. Ich habe auch so etwas“, sag ich und hole eine meiner Ketten hervor. Ich trage immer zwei. Die eine hab ich damals von Elijah bekommen, als wir in Lakeshore am See waren. An dem Abend hat er unseren Freunden und mir von seiner tödlichen Krankheit erzählt. Die andere, welche ich gerade hervorgeholt habe, ist von meinem Dad. „Die sieht schön aus“, bekomme ich gesagt und kann dem nur voll und ganz zustimmen. Es ist eine Silberkette mit einem kleinen, blauen Herz. Er meinte, der Edelstein sei ein echter Saphir. „Ich hab sie zu meinem dreizehnten Geburtstag bekommen. Mein Dad hat sie mir Geschenkt. Immer wenn ich ihn vermisse, nehme ich das Herz kurz in die Hand und denke an ihn. In Gedanken sehe ich ihn dann immer. Das hat mir in manchen Situation echt geholfen.“ Und beim erzählen merke ich richtig, wie ich anfange zu strahlen.

„Das ist voll das schöne Geschenk. Und ja Jacy hat auch sowas“, erfahre ich. „Wollen sie es mir sagen?“ Alaric nickt. „Meine Tochter hat zu ihrer Einschulung damals eine Kette bekommen. Fast so ähnlich wie deine Lea. Man kann das Herz aufmachen. Links ist ein Bild von mir und rechts hab ich etwas eingravieren lassen. Einen Spruch, der ihr helfen wird, wenn sie mal nicht weiter weiß.“ „Wissen sie was Mr Garroway?“ Er schüttelt den Kopf „Nein. Aber das wirst du mir sicher gleich erzählen.“ Nickend stimme ich dem zu.

„Jaccy kann stolz darauf sein, so einen wundervollen Dad zu haben. Das mit der Kette ist richtig süß von ihnen Alaric.“ Nun kann auch er sich ein paar Tränen nicht mehr verkneifen. „Und das sagst du mir, nach dem was ich getan habe?“ Ich muss schmunzeln. Mit so einer Reaktion hab ich echt nicht gerechnet. „Das habe  ich natürlich nicht vergessen. Aber was ich gesagt habe, meine ich zu 100 Prozent ernst. Familie ist das wichtigste. Vergessen sie das bitte nicht.“

Doch bevor er mir antworten kann, werden wir von einem plötzlichen Klopfen an seiner Bürotür gestört. „Herein“, ruft Alaric. Im selben Moment öffnet sich die Tür und zum Vorschein kommt eine Person, die ich schon ein wenig vergessen habe. Die gute Freundin von Gracie und zugleich Arbeitskollegin von ihr. „Oh. Ich wollte nicht stören. Aber es ist wichtig Mr Garroway“, kommt es aus ihr heraus. „Was kann ich für sie tun?“, fragt er gleich freundlich nach. Etwas überrascht schaut sie ihn an. Mit dieser Freundlichkeit hat sie wohl nicht mit gerechnet. „Das Restaurant ist gerade komplett voll. Wir sind ausgebucht und überfordert. Reggie und ich sind die einzigen Kellner aktuell. Wir bekommen das alleine einfach nicht hin“, rattert sie panisch runter. Auf ihrem Gesicht ist eindeutig, ganz dick und fett 'überfordert' drauf geschrieben. Kate tut mir echt leid.

Mein Blick wandert zu Alaric hinüber, der selbst nicht so recht weiß, was er machen soll. „Ich schaue mal, was sich da machen lässt“, antwortet er und schenkt ihr dabei ein Lächeln. „Sind sie sich sicher?“, hinterfragt sie berechtigt. Denn nach dem was ich schon gehört habe, kann ich ihre Sorge voll und ganz verstehen. „Versprochen“, versichert Mr Garroway ihr, woraufhin sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht bildet. „Danke“, sagt sie nur und verschwindet wieder aus seinem Büro. Neugierig was er nun vorhat, schaue ich ihn an. Doch der Blick auf seinem Gesicht beantwortet schon alles. „Sie müssen nichts sagen Alaric. Ich werde den beiden unter die Arme greifen.“ „Das würdest du tun Lea?“, möchte er wissen. Ich nicke. „Danke. Damit hätte ich echt nicht gerechnet. Das bedeutet mir viel“, sagt er und freut sich, was man ihm auch direkt an sieht. Ihm fällt ein richtiger Stein vom Herzen.

„Ich helfe gerne“, sag ich nur und stehe auf. Gerade wollte ich die Türklinke hinunter drücken, als ich noch mal zurückgehalten werde. „Lea ich hab noch eine Frage“, kommt es aus ihm heraus. „Ja?“ „Was soll ich mit dem Restaurant machen? Wenn ich Inhaftiert werde, dann muss ich es vielleicht schließen. Das möchte ich nicht“, stellt er mir die Frage. An seinem Gesichtsausdruck kann ich ganz klar erkennen, wie sehr Angst er hat. „Ich kann nicht viel dazu sagen Alaric, bis auf, dass sie die Richtige Entscheidung treffen werden.“ Er nickt, was hoffentlich heißt, dass er verstanden hat, was ich meine. „Bist du dir auch wirklich sicher?“ „Das bin ich. Sie wissen was zu tun ist. Aber jetzt muss ich einer guten Freundin helfen.“

Auf seine Antworte warte ich nicht mehr, sondern mache mich auf die Suche nach Kate. Ich gelange wieder in den vorderen Bereich, wo es nur so von hungrigen und durstigen Gästen wimmelt. Es dauert ein bisschen, bis ich sie finde. Sie bedient gerade einen zweier Tisch. Genauer gesagt ein Liebespärchen, wie es aussieht. Die beiden sehen echt süß aus. Ob sich Dylan über ein gemeinsames Essen mit mir freuen würde? Bestimmt. Aber das ist jetzt zweitrangig. Erstmal muss ich hier aushelfen.

„Kate“, rufe ich ihr zu, als sie in meine Richtung kommt. Sie sieht fix und fertig aus, was ich komplett nachvollziehen kann. Auf ihrer Stirn bilden sich bereits Schweißperlen und auch ihr Brustkorb hebt und senkt sich schneller. „Lea. Bin ich froh dich zu sehen“, sagt sie erleichtert und legt ihr Tablett auf den Tresen ab. „Du bist ja voll außer Atem Kate. Mach mal bitte für ein paar Minuten Pause. Ich will nicht, das du mir hier noch umfällst“, rede ich auf sie ein und lege meine Hände auf ihre Schulter. Doch statt sich zu beruhigen, passiert genau das selbe. Sie putscht sich immer mehr auf. „Das kann ich nicht Lea. Hast du vorhin nicht gehört, es ist volles Haus. Reggie und ich sind ausgelastet“, erfahre ich, wobei sie immer panischer wird.

„Kate stopp!“, sag ich etwas lauter und lege meine Hände auf ihre Schulter. Oha. Kate ist aber sowas von verspannt. Wenn sie naher Feierabend hat, was hoffentlich pünktlich sein wird, dann muss sie als erstes ein entspanntes und heißes Bad nehmen. Sofort zuckt sie zusammen und schenkt mir endlich ihre Aufmerksamkeit. „Was ist denn Lea?“, will sie natürlich gleich wissen. „Dir helfen. Ich helfe euch jetzt.“ „W...Wie meinst du das?“, fragt sie nach und über ihren Kopf schweben unsichtbare Fragezeichen. „Nach dem du aus dem Büro verschwunden bist, hab ich deinem Chef, Mr Garroway versprochen zu helfen“, erkläre ich und merke, wie sich Erleichterung in ihr ausbreitet. „Das ist kein Scherz oder? Du meinst das gerade ernst oder Lea?“ Ich nicke. „Yeah“, quiekt Kate freudestrahlend herum und fällt mir um den Hals. Es freut mich sehr, wie sie sich freut.

„A...Aber da gibt es ein kleines Problem“, fällt mir auf und schaue sie dabei direkt an. Sofort setzt sie wieder ihren besorgten Blick auf. „Och bitte nicht“, antwortet sie. Ich muss ein bisschen schmunzeln. „Nichts schlimmes Kate. Keine Sorge. Es ist nur so...“, versuche ich zu erklären und schaue mein Outfit an. Es ist bequem, aber ich denke nicht für die Arbeit in einem Restaurant geeignet. Und auf ihrem Gesicht bildet sich nun der gewünschte Aha Effekt. „Achso. Ich verstehe schon.“ „Hast du denn was zum wechseln da?“, frag ich sie direkt. „Du hast Glück, dass gerade fast alle Gäste bedient sind. Jetzt hab ich endlich wieder ein paar Minuten Zeit“, erfahre ich von ihr. „Magst du mir dann zeigen wo ich mich umziehen kann?“

Statt zu antworten, grinst sie nur, packt mich am Arm und zieht mich in die Umkleiden. Mein Atem stockt, wenn ich daran denke, dass Gracie hier, vielleicht sogar an dieser Stelle, von ihrem Chef vergewaltigt wurde. „Ist alles gut mit dir Lea?“, werd ich gefragt. Hat sie etwa was gemerkt? „Ja. Was soll denn sein?“ „“Du siehst auf einmal so blass im Gesicht aus. Sicher das alles in Ordnung ist?“, wiederholt sie ihre Frage. Oh Gott. Ich darf mir jetzt nichts anmerken lassen. „Ach. Das ist nicht so schlimm“, antworte ich schnell und trinke ein Schluck Wasser, was ich mir mitgenommen habe. „Guck. Schon viel besser“, hänge ich noch schnell dran und setze ein gespieltes Lächeln auf. Alle Emotionen die ich im Laufe des Gespräches zurückgehalten habe, kommen langsam wieder zurück. Hoffentlich kann ich mich jetzt wieder ein bisschen ablenken.

Kate sagt nichts weiter dazu, sondern geht mit mir zu einem der Spinde, welcher vermutlich ihrer ist. „Du kannst mein zweites Paar Arbeitsklamotten haben“, schlägt sie vor und legt sie auf die Bank, die sich vor den Spinden entlangziehen. „Ist das denn für dich in Ordnung?“, frag ich sie und schaue mir die Sachen an. „Natürlich. Die müssten dir sogar passen Lea.“ „Danke. Das ist echt lieb von dir“, bedanke ich mich und umarme sie dafür. „Nichts zu danken. Zieh dich einfach um und komm dann nach vorne. Ach ja und vergiss bitte nicht deine Haare zusammenzubinden“, weißt sie mich noch darauf hin und verschwindet auch schon wieder.

So schnell wie ich mich ausgezogen habe, so schnell hab ich mich auch angezogen. Und wer hätte es gedacht? Kate ihre Wechselkleidung passt wie angegossen. Das hätte ich irgendwie nicht gedacht. Und ehrlich gesagt muss ich schon zugeben, dass sie mir echt gefällt. Daran könnte ich mich gewöhnen. Jetzt steh ich mit schwarzer Bluse, der passenden Hose und Schürze vor dem Umkleidespiegel. Ich binde mir noch rasch die Haare zusammen und gehe dann wieder raus. Dann hoffe ich, dass sich meine Unterstützung auszahlt.

„Wow“, höre ich Kate auf einmal staunend sagen. „Was ist denn?“, frag ich überrascht nach und schaue sie an. „Du siehst toll aus. Steht dir echt gut“, bekomme ich von ihr gesagt. Meine Wangen röten sich ein wenig. „Danke. Du aber auch“, gebe ich zurück und schenke ihr zugleich ein warmes Lächeln. „Hast du denn schon Erfahrungen gemacht?“, möchte sie gleich daraufhin wissen und wird ernst. Jetzt geht es also richtig zur Sache. „Ja hab ich. Ich hab schon mal gekellnert“, erkläre ich und binde mir meine Schürze noch ein wenig fester. „Das ist gut Lea. Dann erspare ich mir die ganze Erklärung.“ „Und wo finde ich alles?“ „Du findest alles hinter der Bar“, sagt sie und öffnet ein paar der Schubladen. Ich schaue mich kurz um, ehe ich mich wieder zu ihr drehe. „Das sollte ich hinbekommen“, antworte ich und fühle mich schon etwas sicherer. „Dann mal los.“

Und so vergeht der ganze Abend wie im Flug. Ich hatte schon längst vergessen, wie anstrengend es ist, als Kellnerin in einem so gut besuchten Restaurant zu arbeiten. Hut ab an der Stelle für Kate und ihren Arbeitskollege Reggie, die das hier so gut es geht meistern. „Einen schönen Abend ihnen noch“, wünsch ich dem letzten Gästepaar, nach dem sie ihr Essen bezahlt haben. „Ihnen auch“, sagen die beiden im Chor und verlassen das Poirot. „Puhhh. Geschafft“, kommt es schnaufend aus Kate heraus, die ihre Hand mir entgegen streckt, damit ich einschlagen kann. „War echt anstrengen. Hat aber verdammt viel Spaß gemach“, gebe ich zu und lehne mich an die Theke. Ich öffne die Schleife meiner schwarzen Schürze und lege diese auf den freien Barhocker neben mir.

„Hier. Das hast du dir verdient“, höre ich Reggie hinter mir sagen und bekomme von ihm ein Glas gekühlte Cola. „Danke“, sag ich und nehme sofort ein Schluck. „Lea ich bin stolz auf dich. Du hast uns heute echt gut unter die Arme gegriffen. Ohne dich hätten wir das Wahrscheinlich gar nicht gepackt“, werde ich gelobt. „Danke ihr beiden. Das war auf jeden Fall ein toller Abend“, antworte ich und trinke mein Glas aus. Das tat verdammt gut, auch wenn ich nicht so der Cola Fan bin. „Fand ich auch. Und weißt du was Lea?“, fragt sie mich. Ich schüttel den Kopf. „Was denn?“ „Du hast jetzt Feierabend“, verkündet sie und klatscht dabei in ihre Hände. „Wie jetzt?“, hinterfrag ich verwirrt. „Na du hast schon richtig verstanden. Du hast jetzt Feierabend. Du darfst nach Hause gehen“, wiederholt sich Kate. „A...Aber was ist dann mit euch? Soll ich euch nicht lieber helfen?“

„Nein Lea!“, kommt es nun lauter aus ihr heraus. „Es ist alles gut. Du hast dir den Feierabend mehr als verdient“, macht sie mir jetzt endgültig klar. „Da kann ich wohl nichts gegen sagen“, antworte ich und nehme meine Schürze vom Barhocker. „So sieht es aus. Reggie und ich schaffen das auch alleine“, sagt sie zu ihm. Erst jetzt merke ich, was für vielsagende Blicke sich Reggie zuwirft. „Ich versteh schon“, kann ich nur grinsend sagen und zwinker Kate zu. Sofort läuft sie rot an und wechselt nervös von einem Bein, aufs andere. Anscheinend vollen die beiden etwas Zeit für sich haben. Aber das können sie doch auch bei sich zu Hause machen oder etwa nicht? Naja. Dann will ich die beiden mal nicht länger stören. „Bis Morgen“, verabschiede ich mich von ihnen und steuere auf die Tür zu. Ich höre nichts mehr von ihr, weshalb ich mich beim rausgehen noch einmal umdrehe. Ein Grinsen breitet dich auf meinem Gesicht aus, als ich sehe, wie sich Kate gerade zu ihm rüber beugt und ihre Lippen auf seine legt.

Ich freue mich für sie. Kate hat es natürlich auch verdient und so wie ich die Harmonie zwischen den beiden im laufe des Tages beobachten konnte, passen sie und Reggie, meiner Meinung nach echt gut zusammen. Die Fahrt zurück zu meiner Wohnung geht recht schnell. Was die beiden wohl die Zeit so gemacht haben? Ich hab Gracie und vor allem Dylan echt vermisst. An ihn musste ich zum Teil besonders oft denken. Doch dann weiten sich meine Augen, als ich auf dem Parkplatz zum Halt komme. Hier steht ein Polizeiwagen vor dem Haus und leichte Panik macht sich in mir breit. Schnell steige ich aus, schnappe mir meine Handtasche und gehe hinein.

Nur die Vergangenheit kennt die Wahrheit 4Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt