Prolog

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Persepolis, 280 v.Ch.

Es war Neumond. Die Nacht so schwarz, als sei sie aus puren Schatten gewoben. Nur die Sterne funkelten über ihm, spendeten seinem armseligen Dasein etwas Licht. Sie begann bereits ineinander zu verschwimmen, wenn er sie anschaute. Sein Augenlicht flackerte, wurde allmählich schwächer. Mit aller Mühle kniff er die Augen ein letztes Mal zusammen. Den Blick starr auf den Himmel gerichtet, suchte er nach den Himmelswächtern. Es dauerte einige Sekunden, dann entdeckte er Regulus, den Wächter des Nordens, Hüter der Sommersonnenwende. Mit viel Mühe gelang es ihm am Horizont auch Antares zu finden, den Wächter des Westens und den Hüter des Herbsts. Er war gerade erst aufgegangen. „Meine Zeit ist noch nicht gekommen", flehte er. „Ihr dürft meine Seele nicht mit euch nehmen." Er presste seine Hand fester auf seinen Bauch, Blut quoll aus einem langen Schnitt. Seine Hand vermochte es nicht zu stoppen, dünnflüssig und viel zu eifrig quoll es durch seine Finger und tränkte seine schwarzen Kleider.

Wie ein neugieriger Dummkopf war er in einer Neumondnacht aus dem Palast geschlichen. Hatte sich locken lassen, von falschen Versprechungen über Geheimnisse, die er schon lange versuchte zu entschlüsseln. Aber es war zu einfach gewesen, viel zu einfach. Er hätte ahnen müssen, dass es nur ein Hinterhalt war. Seine Leibwächter standen noch immer vor seinen Gemächern, groß und angsteinflößend, wussten sie nicht einmal, dass sie ein leeres Zimmer beschützten. So lag er nun einsam im Staub weit vor der Stadt, ohne Waffen und ohne Pferd. Wie dumm er doch gewesen war, wie leichtgläubig. Er hätte den Tod verdient, wahrhaftig. Wäre nicht noch so viel Lebenszeit übrig in der Sanduhr seines Lebens!

„Weder Antares, noch Regulus können dir helfen", sprach plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihm. Er erschrak fürchterlich, ein letzter Stoß Adrenalin jagte durch seine Venen. Er versuchte den Kopf zu drehen, doch es gelang ihm nicht. „Überhaupt wird dir niemand helfen können.", ergänzte die Stimme.

„Wer ist da?", flüsterte er mit kraftloser Stimme.

„Ich bin es, der Wegweiser der verlorenen Seelen, der Wächter der Weltentore, Tänzer zwischen den Welten." Eine in schwarz gehüllte Gestalt trat in sein Sichtfeld, kaum setzte sie sich von den Schatten der Umgebung ab. Er konnte kein Gesicht erkennen, denn sein Kopf war von einer großen, schwarzen Kapuze bedeckt.

„Du bist hier, um mich zu holen?", fragte er.

„Ja, mein Prinz, das bin ich."

„Aber ich bin noch nicht bereit", flüsterte er mit leiser Stimme. Müdigkeit begann sich in seinen Gliedern auszubreiten, ließen sie allmählich steif und schwer werden. „Ich bin in einen Hinterhalt geraten, meine Zeit ist noch nicht abgelaufen." Der Schwarze lachte, es klang wie ein bitteres Grollen, wie ein Frühlingsgewitter in der Wüste.

„Sieh dich an, Prinz", spie er die Worte mit Verachtung aus. „Du liegst in deinem eigenen Blut, kaum ein Tropfen davon noch in dir. Und du sagst mir, dass deine Zeit noch nicht abgelaufen ist?"

„Das Orakel", versuchte er es erneut, immer schwerer wurde seine Zunge. „Jahrhunderte versprach es mir. Und eine stürmische Liebe."

„So, so." Der Schwarze schien von seinem Versuch keineswegs amüsiert. „Wie ich es verabscheue, mit euch zu verhandeln. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Alles wisst ihr besser." Er schien eher mit sich selbst zu sprechen als mit ihm.

„Noch nicht bereit", lallte er, unterbrach sein wütendes Gebrabbel. Er hatte keine Zeit zu warten, seine Augenlider drohten bereits zuzufallen. „Noch nicht bereit." Ein Schrei des Zornes entfuhr dem Schwarzen. Wut machte sich in ihm breit, seine ausgestreckten Arme fuhren wild durch die tiefschwarze Nachtluft.

„Wie ich es hasse!", schrie er erstickt. „Wie ich euch alle hasse! Immer dasselbe. Ich will nicht mehr! Kann nicht mehr! Viele zu lange musste ich euch ertragen." Der Prinz schloss die Augen, gab der Verlockung endlich nach. Sein Geist wollte in die schwarzen Schatten um ihn herum entgleiten, wollte darin aufgehen. Er begann bereits das Bewusstsein zu verlieren, da spürte er, wie der Fremde ihm eine Münze in die Hand drückte und die Finger darum schloss.

„So fällt das Los auf dich, Prinz. Du wolltest Jahrhunderte? So schenke ich dir meine verfluchte Zeit und nehme deinen Platz in der anderen Welt ein." Dann war es still um ihn. Der Schwarze war fort, hatte ihn in der Dunkelheit zurückgelassen. Mit einer Münze in der Hand und seiner Seele.

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt