Noch lange hatte Tilda nach dem überraschenden Kuss auf der Parkbank an der Donau gesessen. Der Abend hatte zwar keine ihrer Fragen beantworten können, dafür aber tausende neue aufgeworfen. Warum hatte er sie geküsst? Warum war er davongelaufen? Wo war er hingegangen? Wofür brauchte er Zeit? Würde er sich jemals wieder melden? Sie grübelte noch immer, als die ersten Regentropfen zu fallen begannen. Dick und rund klatschten sie auf ihr Haar, auf das Gesicht, auf ihre Wangen. Und auf ihre Knie, die anders als sonst nicht von einer Leggins bedeckt waren, sondern unter dem Saum eines Kleides hervorlugten. Als der Regen stärker wurde erwachte sie aus ihrer Starre, rannte den nassen Weg entlang bis zur nächsten U-Bahn-Station, wo sie halb durchnässt in die nächste Bahn nach Hause stieg. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe ihre Haltestelle verpasste.
Die Tage danach zogen dahin und der Tod meldete sich nicht bei ihr. Er ließ sie allein mit all ihren Fragen. Ihr Handy blieb stumm, egal wie oft sie es anstarrte oder in die Hand nahm. Aber auch sie schrieb ihm nicht. Nein, er hatte sie geküsst, er war gegangen: der Ball lag eindeutig auf seinem Spielfeld. Auch wenn es weh tat, es war nicht ihr Spielzug. So ging sie mit schlechter Laune an die Arbeit, wo sie nur mitleidige Blicke von Ulrike und Selma erntete. Auch an Tante Ilses Sonntagsschmaus musste sie sich wirklich zusammenreisen, denn irgendwie wollte keine gelöste Stimmung aufkommen, wie es sonst der Fall war.
„Ich habe schlecht geschlafen, nimm es mir nicht übel, Tantchen", hatte sie Ilse versuchte zu erklären, als sie die besorgten Blicke bemerkt hatte. „Noch mehr gutes Essen von dir und mir fallen die Augen zu." So war sie bei der ersten Gelegenheit verschwunden und hatte ihr versprochen, beim nächsten Mal einfach doppelt so lange zu bleiben.
Als es wieder Dienstag wurde, hatte Tilda ihren freien Tag. Lange hatte sie geschlafen und war schließlich wieder ins Grübeln verfallen. So stark, so tief und so düster, dass sie sich selbst dazu zwang, sich anzuziehen und den Tag außerhalb der Wohnung zu verbringen. Sie kämmte die Haare, putzte die Zähne, spritzte sich Wasser ins Gesicht und zog sich ihre alt bekannten Leggins und ein ausgetragenen Bandshirt an. An den Tagen, an denen sie überhaupt keinen Antrieb finden konnte, da half es ihr, sich präsentabel zu machen. Wenn sie dann ausgehfertig in der Küche stand, war die Lust dazu, die Türschwelle auch tatsächlich nach draußen zu übertreten, deutlich gesteigert.
So auch heute. Nach einem Schluck Kaffee und einem Käsebrot war sie soweit. Sie gab sich einen gehörigen Ruck, nahm ihre Tasche, öffnete die Zimmertür und lief durch das Treppenhaus hinunter auf die Straße. Als die Haustür im schloss einrastete, war der erste Schritt getan. Es war auch bitter nötig, denn einige Erledigungen hatten sich aufgestaut, die sie die ganzen letzten Wochen schon abharken wollte. Also zog sie los, geradewegs in die Innenstadt. Sie kaufte ein, brachte Briefe zur Post, organisierte einen Gutschein für Ulrikes nahenden Geburtstag und gönnte sich schließlich einen Milchkaffee bei Starbucks.
Als sie mal wieder tief in Gedanken versunken auf die Straße trat und an ihrem Kaffee nippte, fiel ihr zuerst die Menschengruppe auf dem Gehweg an der großen Kreuzung auf. Wild durcheinanderredend standen sie da, blockierten den Weg und stachen aus dem sonstigen Geschehen heraus. Dann entdeckte Tilda das Auto, dass neben der Menschengruppe stand und daneben ein zerbeultes Fahrrad. Dazwischen spannte sich die Meute. In der Ferne hörte Tilda ein Martinshorn. Da begriff sie, dass es eine Unfallstelle war. Sie nahm den Kaffee fest in die Hand und beschleunigte ihre Schritte. So wollte nicht nutzlos herumstehen, sie wollte verschwinden und den Helfern Raum geben, dem vermaledeiten Voyeurismus nicht noch mehr Zulauf schenken. Mit Verachtung musterte sie die umstehenden Menschen. Frechheit, murmelte sie.
Sie wollte gerade die große Straße überqueren, um der Meute großzügig auszuweichen, da blieb ihr Blick an einem großen Mann hängen, mit schwarzen Locken und einem grauen Hoodie.
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Tilda und der Tod | ✔️
Paranormal„Hast du ein Handy?", fragte der Tod sie plötzlich. So plötzlich, dass er sie aus den Tiefen ihrer Tagträume riss. Sie nickte. „Warum?" „Gibst du mir deine Nummer?" Röte stieg in ihre Wangen, so schnell, dass sie es nicht verhindern konnte. Um sie...