6. Tod am Naschmarkt

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Der Sonntag war Tildas einziger, fester freier Tag in der Woche. Denn da hatte die Bibliothek geschlossen. Dies nutzte Tilda, um schamlos lange auszuschlafen. Bis weit nach Mittag lümmelte sie in ihrem Bett, verließ das Schlafzimmer nur um sich aus der Küche etwas zu Essen und zu Trinken zu besorgen und gelegentlich auf Toilette zu gehen. Aber sonst kuschelte sie sich im Schlafanzug unter ihre Decke, hörte Musik und tauchte ganz tief zwischen die schattigen Zeilen aus schwarzer Tinte. Oft bemerkte sie gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Denn jeden Sonntag, da hatte Tilda am späten Nachmittag eine Verabredung.

Sie zog sich an, kämmte das Haar gründlich und band es zu einem Zopf. Sie packte wie jede Woche ein in der Bibliothek sorgsam gewähltes Buch in die Tasche, legte ihre Schlüssel und ihr Handy dazu und machte sich auf den Weg. Auf den Weg in die Vorstadt, dort wo Tante Ilse seit Jahrzehnten in ihrer kleinen Wohnung residierte. Um Punkt 17:00 trat sie auf die Schwelle des Hauses und drückte die Klingel.

„Komm hoch, du kennst den Weg", antwortete Ilse durch die Gegensprechanlage, so wie sie es jeden Sonntag tat. Tilda öffnete die Tür und atmete den Duft ihres alten Zuhauses ein. Der Hausflur roch nach einer ungewöhnlichen Mischung aus Bleiche, Waschmittel, Sauerkraut und Staub. Nirgendwo anders hatte sie diesen Geruch jemals gefunden, und erstaunlicher Weise war er über all die Jahre gleichgeblieben. Vielleicht lag es daran, dass in diesem Haus noch immer die gleichen Bewohner lebten, die schon hier wohnten, als sie als kleines Mädchen eingezogen war.

Als sie im zweiten Stock die Wohnungstür von Tante Ilse erreicht, stand diese bereits auf der Schwelle. Ein Hauch von Kölnisch Wasser stieg ihr bereits in die Nase. Ilse nahm sie fest und herzlich in den Arm, drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange und schob sie in die Wohnung.

„Ich hoffe, du hast genug Hunger mitgebracht." Wieder ein Satz, den Tilda hätte voraussagen können.

„Natürlich", entgegnete sie lächelnd. Aber zuerst setzten sie sich an den großen Wohnzimmertisch und Ilse schenkte ihr ein großes Glas Eierlikör ein.

„Sag schon, was hast du mir heute Feines mitgebracht?" Tilda kramte in ihrer Tasche und legte ein Buch auf den Tisch. Es war etwas zerlesen. „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand?", las Ilse. Tilda nickte. „Meine Liebe, sag, willst du mich loswerden?" Sie lachte.

„Um Gottes Willen, nein! Ich möchte, dass du noch mindestens 20 Jahr durchhältst."

„Puh", war ihre Antwort. „Darauf trinken wir erst einmal." So stießen sie die Eierlikörgläser zusammen und nahmen beide einen köstlich cremigen Schluck. Dann öffnete Tante Ilse die kleine Kommode an der linken Zimmerwand und holte das Kartenspiel heraus.

„Was spielen wir heute?", fragte Tilda.

„Wie wäre es mit Canasta?" Sie nickte. Schon in der Grundschule hatte Tilda die meisten existierenden Kartenspiele beherrscht. Es war neben dem Lesen, dem Lachen und dem Häkeln Tante Ilses viertliebstes Hobby. Und so zelebrierten sie es jeden Sonntag aufs Neue.

„Wie war deine Woche", fragte sie Ilse, nachdem ihr Kartenspiel Fahrt aufgenommen hatte. „Was gibt es Neues."

„Mmhh... nicht viel. Erwin hat wieder Ischias, Cordula hat die Grippe, Heike ist auf einen Liebesschwindler aus Afrika reingefallen und hat ihm 5.000 Euro überwiesen." Tilda lachte. Sie kannte Ilses Freunde natürlich alle ausgesprochen gut, schließlich waren sie über die Jahre zu ihrer Familie geworden.

„Ist Heike denn so verzweifelt?" Ilse seufzte schwer.

„Sie war schon immer verzweifelt. Wolfgang, ihr erste Mann.... Ich sage dir... ganz schlimmer Finger. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf einen Liebesschwindler hereinfiel." So nahm nun auch ihr Gespräch Fahrt auf und Tilda tauchte völlig in der warmen, gemütlichen Welt von Tante Ilse unter. Um Punkt 19:00 Uhr servierte Ilse die Vorspeise, meist eine Suppe, um 19:30 Uhr den Hauptgang und um 20:30 Uhr kam das Dessert. Beim Eierlikör danach tauschten sie noch die amüsantesten Geistergeschichten der Woche aus. Nach einer letzten Frage zu ihrem nicht vorhandenen Liebesleben, bei dem sie immer abwinkte, fand der Abend sein Ende. Tilda umarmte Ilse, versprach ihr Bescheid zu geben, wenn sie Zuhause ankam und lief durch den ungewöhnlich duftenden Hausflur nach unten.

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt