18. Zweifelhafter Tod

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Tilda war feige. Feige und mutlos, hasenfüßig und duckmäuserisch. Denn je näher Tante Ilses Geburtstag rückte, je sicherer war sie sich, dass sie den Tod mitbringen wollte. Sie wollte lieber eine unsichere Zukunft mit ihm als gar keine. Das hatte sie beschlossen, nachdem sie nächtelang wachgelegen und besorgte Blicke von ihren Arbeitskolleginnen kassiert hatte. Sie, Tilda, würde einen Schritt nach vorne wagen. Sie war noch jung genug, um etwas Zeit mit ihm zu verschwenden.

Das große Problem war nur, dass sie sich nicht traute, mit dem Tod darüber zu reden. Für jedes Treffen nahm sie sich vor, ihn darauf anzusprechen. Doch jede Chance verstrich. Sie lag neben ihm im Bett, während er mit langen Fingern zärtlich durch ihre Haare strich, und brachte es nicht übers Herz. Sie stand vor der Türschwelle auf Zehenspitzen, während er ihr einen bittersüßen Abschiedskuss gab, und blieb stumm. So sehr sie sich auch anstrengte, sie war dazu nicht fähig. Was war, wenn er ablehnen würde? Sicher verstand er die Tragweite ihrer Frage. Die Option, dass er nein sagen würde, war also sehr real.

So war Tante Ilses Geburtstag schließlich nur noch zwei Wochen entfernt, als sie haareraufend in ihrem Lesesessel saß und ihre eigene Feigheit verteufelte. Warum nur, warum war sie so mutlos? Das konnte doch nicht sein! Schließlich war es ihr doch so wichtig. In einem Akt der puren Verzweiflung zählte sie bis 10, stand auf, nahm ihr Handy in die Hand und schreib ihm eine WhatsApp-Nachricht.

„Hast du übernächsten Sonntag schon was vor? Wenn nein, magst du mich auf den Geburtstag von Tante Ilse begleiten? Schließlich warst du im letzten Jahr auch schon da." Ohne weiter nachzudenken, drückte sie auf Senden und legte das Handy zurück auf die Fensterbank. Oje, dachte sie. Oje oje oje. Sie hatte es getan. Sie hatte ihn gefragt. Es klang leicht und zwanglos, aber das war es nicht. Was er wohl antworten würde? Wann er wohl antworten würde? Ihr Puls raste, ihre Hände waren schwitzig. Sie lief im Zimmer auf und ab, ging von der Küche in den Flur, vom Flur ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer. Dann begann sie von vorne. Immer, wenn sie eine Runde beendet hatte, blickte sie auf ihr Handy. Sie konnte sehen, dass er es bereits gelesen hatte. Aber eine Antwort blieb er ihr noch schuldig.

Die Stunden vergingen und Tildas Laune wurde immer schlechter. Immer verzweifelter. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und griff erneut zum Handy.

„Es würde mir viel bedeuten", schrieb sie. Dann ging sie ins Badezimmer und machte sie fertig für die Nacht. Als sie zurückkam, um ihr Handy zu holen, da wartete eine Antwort auf sie.

„Wenn du es dir wünschst, dann werde ich dich begleiten". Tilda stieß einen Jubelschrei aus, sprang in die Luft und tanzte durch das Wohnzimmer. Er hatte Ja gesagt! Unglaublicher Weise hatte er Ja gesagt! Er würde sie begleiten. War ihr „Plus One". Und vielleicht noch viel mehr?

Freudestrahlend stellte Tilda den Wecker für den nächsten Morgen, zog die Decke zurück und kroch darunter. Doch schlafen konnte sie nicht. Nicht in dieser Nacht.  

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt