So fand der Tod still und heimlich den Einzug in Tildas Alltag. Wie ein fremder Hund durch das Loch in einem alten Maschendrahtzaun, so huschte er hinein. Auch wenn er noch immer mit seiner „Inventur" beschäftigt war, wie Tilda es heimlich in ihren Gedanken nannte, so nahm er sich doch immer die Zeit, ihr zu schreiben. Mal las sie seine Nachrichten morgens beim Frühstück, mal in der Mittagspause, mal in einer unbeobachteten Minute am Info-Schalter, mal auf der Toilette und, ganz besonders häufig, in der Bahn. Alle samt ließen sie schmunzeln. Bereits, wenn sie ihr Handy nur in die Hand nahm, bekam sie ein gutes Gefühl. Ein Gefühl, was ihr immer bewusster wurde.
Ab und an, da lauschte sie der warnenden Stimme in ihrem Kopf. „Obacht!", wiederholte diese immer und immer wieder, besonders in der gräulich-nebligen Phase zwischen Wachsein und Schlaf. „Obacht!", denn alles, was sie begannen, konnte keine Zukunft haben. Auch, wenn es sich so leicht und unverfänglich anfühlte, so würde sie niemals einen richtigen, einen wirklich realen Alltag mit dem Tod teilen können. Er war ein uraltes, unsterbliches, mystisches Wesen, welches Seelen sammelte. Sie war eine verträumte und etwas sozialscheue Bibliothekarin, die Bücher sammelte. Die einzig wirkliche Gemeinsamkeit war, dass sie beide die gleichen Geister sehen konnten, die er noch deutlich weniger mochte als sie. Und abgesehen davon sprach nichts für eine gemeinsame Zukunft. Alles was sie hatten, war eine Freundschaft, die sich langsam, aber sicher in einen leichten Flirt verwandelte hatte, der Übergang fließend. „Doch wo soll das noch hinführen?", fragte die Stimme in den Momenten, in denen sie sie nicht zur Obacht mahnte. Die Frage konnte Tilda sich selbst nicht beantworten. So sehr sie auch darüber grübelte, im Starbucks an der Ecke, auf einer Bank in der Nähe des Naschmarktes oder vor ihrem Computer am Info-Schalter. Möglicherweise sollte sie sie auf die Liste der Fragen stellen, die sie noch an ihn richten wollte? Sie würde definitiv einen der vorderen Ränge einnehmen.
Irgendwann gab sie es auf, darüber nachzudenken, führte es ja zu nichts. Immer, wenn die Frage sie einmal wieder einholte, versuchte sie sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Aber das gelang nicht immer. Und so passierten ihr in der Bibliothek allerlei Fehler, die ihr sonst nie unterlaufen wäre. Einmal, nach Feierabend, da nahm sie Selma sogar zur Seite und fragte sie, ob bei ihr alles in Ordnung sei.
„Ja, warum fragst du?" Selma zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht ganz genau. Aber du wirkst so anders. So abwesend. Und deine Konzentration ist nicht gerade die, die sie normalerweise ist." Tilda wurde etwas rot, ließ ihre langen, schwarzen Haare ins Gesicht fallen.
„Ich denke gerade viel nach, über dies und das", antwortet sie, um so nah an der Realität wie möglich zu bleiben. Denn Selma hatte ein ausgezeichnetes Gespür dafür, das hatte sie schon bei anderen Gelegenheiten bewiesen. „Wo mein Weg mich noch so hinführt."
„Aber für eine Midlife-Crisis bist du definitiv noch zu jung", antwortete Selma und brachte Tilda zum Lachen.
„Gib mir ein paar Wochen und ich werde dir berichten, zu welchen Schlüssen mein Gehirn gekommen ist." Selma legte die Hand auf ihren Arm und nickte.
„Gerne. Da bin ich mal gespannt."
„Aber erzähle Ulrike nichts davon", ergänzte sie. „Sie würde mich nie wieder alleine lassen." Selma nickte, lächelte und beließ es dabei. Aber Tilda wusste, dass sie vorsichtiger sein musste. Oder eben, mit dem Geheimnis herausrücken. Aber irgendwie war sie dazu noch immer nicht bereit. Schließlich konnte sie sie noch immer nicht beantworten, die Frage der inneren Stimme.
Es vergingen drei Wochen, in denen sie zwischen Glück und Unsicherheit taumelte. In dem sie zum ersten mal in ihrem Leben ein Kribbeln im Bauch spürte und hätte jubeln können, wenn er ihr etwas Nettes oder Lustiges schrieb. Aber in denen sie auch nachdenklich vor sich hinstarrte und sich der Endlichkeit des Bauchkribbelns bewusst wurde. Es war zum Haare raufen, diese Situation. Zum Mäuse melken. Zum Teufel an die Wand nageln. Oder lieber doch nicht, schließlich hatte sie die Frage um seinen Chef auch noch nicht wirklich klären können.
So geschah es, dass er drei Wochen nach ihrem letzten Treffen eines Abends ganz unverhofft eine Reihe von Koordinaten sendete. Dazu schrieb er:
„Findest du am Dienstagabend Zeit für mich?" Sie wartete eine ganze Stunde, bis sie ihm antwortete. Denn so lange dauerte es, bis sie sich sicher war, was sie anstelle von „Warum zur Hölle hat das so lange gedauert?" schreiben sollte.
„Gerne", antwortete sie schließlich. Kurz, knapp, unaufgeregt.
Doch ihre Aufregung blieb. Und die Fragen auch.
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Tilda und der Tod | ✔️
Paranormal„Hast du ein Handy?", fragte der Tod sie plötzlich. So plötzlich, dass er sie aus den Tiefen ihrer Tagträume riss. Sie nickte. „Warum?" „Gibst du mir deine Nummer?" Röte stieg in ihre Wangen, so schnell, dass sie es nicht verhindern konnte. Um sie...