Es musste erst Februar werden, bevor Tilda die Bibliothek wieder für sich allein hatte. Abgesehen von den Geistern, die sie dann und wann in den Wahnsinn trieben. Mal spielten sie Verstecken und zählen irritierend laut, mal kegelten sie auf den Gängen, was in mächtigem Getöse endete, das niemanden außer sie störte. Dann stürmte sie nach oben, in die Lieblingsabteilung der Geister, und versuchte sie wild gestikulierend und mit unterdrückter Stimme zurechtzuweisen. Manchmal funktionierte es, häufig nicht. Tilda hatte kein generelles Problem mit den transparenten Wesen, manche mochte sie sogar ausgesprochen gerne, aber diese Rabauken hier in ihrer Bibliothek befanden sich definitiv auf ihrer schwarzen Liste.
An manchen Tagen, wenn sie nach Feierabend keine Pläne hatte, dann schlich sie sich hinauf in die Literaturabteilung und nahm mit zwei oder drei Büchern an ihrem Lieblingsschreibtisch Platz. Er befand sich am Ende eins ungewöhnlich verwinkelten Ganges, direkt am Fenster. Immer wenn sie sich an den Schreibtisch setzte, fühlte es sich genauso an, als wenn sie zuhause durch die Wohnungstür trag.
Auch an diesem Tag nahm sie mit einem gewaltigen Seufzer am Schreibtisch Platz. Es wurde draußen bereits dunkel, und Tilda fiel auf, dass es heute ungewöhnlich still und friedlich war in der Bibliothek. Studierende waren nach den Prüfungen wenige anzutreffen, aber sie hatte seit Stunden auch keinen einzigen Geist gesehen oder gehört. Sicher heckten sie nur etwas aus, dachte sie. Sie griff sicherheitshalber zu ihren Kopfhörern und ließ eine Wagner-Oper abspielen, die alle Geräusche um sie herum wuchtig schmetternd übertönte. Die Zeit verging und nachdem der freundliche Thorsten vom Security-Service die letzte Runde gedreht hatte und ihre eine gute Nacht gewünscht hatte, war sie komplett allein. Das war nicht weiter schlimm, schließlich hatte sie alle Schlüssel. Und das Alleinsein an sich gehörte ja praktisch zu ihren Lieblingsbeschäftigungen.
So saß sie weiter an ihrem Lieblingsschreibtisch in der Ecke vor dem Fenster und blätterte in einem besonders dicken Buch über das mittelalterliche England. So tief war sie zwischen die tintigen Zeilen gerutscht, dass sie den Schatten nicht wahrnahm, der irgendwann näherkam. Erst als er von hinten direkt auf ihr Buch fiel, zuckte sie zusammen und sprang vor Schreck vom Stuhl auf.
„Du!", hauchte sie atemlos, als sie den Tod erkannte, in einem grauen Hoodie und abgetragenen Jeans. Er lächelte, trat einen Schritt zurück und hob entschuldigend die Hände.
„Fräulein Tilda." Sie legte eine Hand über ihr pochendes Herz und starrte ihn weiter an.
„Verfolgst du mich?" Er schüttelte den Kopf. Wie bei ihrer letzten Begegnung hatte er ein schelmisches Lächeln auf den Lippen.
„Nein, du stehst nicht auf meiner Liste", antwortete er und hatte sogar den Nerv, ihr dabei zuzuzwinkern. Bei all dem, was der gemütliche Günther ihr erzählt hatte, wusste sie nicht, ob sie lachen oder davonlaufen sollte. „Keine Sorge", fügte er hinzu, als er die Unsicherheit in ihren Augen sah. Seine Miene wurde etwas ernster und sie ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder.
„Was machst du hier?", fragte sie nach einigen Sekunden der Stille, ihr Herz schlug noch immer wie wild. Aber sie hatte beschlossen nicht davon zu laufen, war sie doch viel zu neugierig. Nach ihrem letzten Zusammentreffen an Supermarkt hatten sich in ihrem Kopf so viele Fragezeichen gebildet, die beantwortet werden mussten. Wer war er genau, was tat er so, wo lebte er, warum trug er keine Sense mit sich? Fragen über Fragen. Er musterte sie einige Sekunden aus seinen regenwolkengrauen Augen, dann lächelte er wieder.
„Arbeiten. Aber es hat sich herumgesprochen, dass ich in der Gegend bin. Die Geister sind ausgeflogen. Für mich gibt es hier heute wenig zu tun." Er nahm sich einen Stuhl vom nächsten Schreibtisch und setzte sich ihr gegenüber. Tilda war überrascht von dieser Geste, aber eher positiv. Konnte sie so schließlich ihre Chance ergreifen und all die Fragezeichen in ihrem Kopf beseitigen.
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Tilda und der Tod | ✔️
Übernatürliches„Hast du ein Handy?", fragte der Tod sie plötzlich. So plötzlich, dass er sie aus den Tiefen ihrer Tagträume riss. Sie nickte. „Warum?" „Gibst du mir deine Nummer?" Röte stieg in ihre Wangen, so schnell, dass sie es nicht verhindern konnte. Um sie...