10. Tod trägt Lippenstift

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Der Tod lief durch die Dämmerung, ziellos und planlos. Er lief über Brücken, die sich wie Fischgräten über die Donau wandten. Er bog um sandsteingraue Häuserecken, die im einsetzenden Laternenlicht gelblich leuchteten. Er lief durch kleine Gassen, die angesichts des drohenden Frühlingsgewitters menschenleer waren. Immer weiter lief er, ohne seine Umgebung wirklich wahrzunehmen.

Während er lief, rannten seine Gedanken, hetzten schneller und schneller, bis sie sich überschlugen. Wie konnte es nur so weit kommen? Er hatte sie geküsst! Wann war er falsch abgebogen, in seiner jahrhundertelang erprobten Routine? Passierte es, als sie ihn am Buffet auf Ilses Geburtstag ansprach? Oder, als er sie in der verlassenen Bibliothek an einem Schreibtisch entdeckte und sich zu ihr setzte? Oder, als er nach ihrer Handynummer fragte? Als er das sogenannte WhatsApp für sich entdeckte? Er konnte es nicht sagen. Alles was er wusste, war, dass seine uralte Existenz Kopf stand.

Dabei wusste er doch mit jeder Faser seines Gehirns, dass es eine schlechte Idee war, sich zu verlieben. Eine wirklich, wirklich schlechte Idee. Dennoch war es passiert. Es schien, als hörte sein Körper nicht auf sein Gehirn. Als liefen die Nervenimpulse, die es sendete, ins Leere, sobald es um Tilda ging. Tilda mit den rabenschwarzen Haaren und den smaragdgrünen Augen. Er dachte an sie, wenn er die Sonne aufgehen sah und wenn er seine Jagd auf verlorene Seelen begann. Wenn er durch die schwarzen, leeren Gänge zwischen den Welten ging oder wenn er sich für einen kurzen Moment auf eine Parkbank setzte. Immer sah er ihre unmöglich grünen Augen, die schwarzen Haare, das helle, symmetrische Gesicht mit der spitzen Nase. Sie war so anders als alle Frauen, die er jemals gekannt hatte, bevor er zu dem geworden war, der er nun mal war.

Auch wenn seine Finger bei dem Gedanken an sie kribbelten und sein Fuß nervös wippte, so war er traurig. Denn ihre Liebe stand unter einem besonders schlechten Stern. War es nicht genug, dass er der Tod war? Dass er Seelen sammelte und sie in die andere Welt hinüberbrachte? Dass er unsterblich war und sie sterblich? So trug er auch noch dieses entsetzliche Geheimnis mit sich herum. Es war so dürsten, dass es in mondlosen Nächten einen Schatten hinter ihn zu werfen schien. Bei jedem Treffen mit Tilda erinnerte es ihn daran, dass ihre Freundschaft endlich war. Denn wenn sich das Geheimnis offenbarte, dann würde alles, was sie aufgebaut hatten, augenblicklich zerstört. Eine riesige Explosion würde jede Facette davon hinfort raffen. Es bestand keine Hoffnung für sie beide. Auf so vielen Ebenen war die Hoffnung verloren.

Der Tod lief mal schneller, mal langsamer. Irgendwann blieb er vor einem dunklen, verspiegelten Schaufenster stehen und starrte sich an. Er sah seine schlanke, große Figur. Die Jeans und das Hoodie, das nach all dieser Zeit in schwarzer Robe noch immer ungewohnt wirkte. Und er sah sein Gesicht, eingerahmt von wilden, schwarzen Locken. Dann sah er blutrote Lippen, die dort eigentlich nicht hingehörten. Er versuchte Tildas Lippenstift fortzuwischen. Rieb mit den Fingern darüber, benutzte den Armel seines Hoddies, der am nächsten Morgen sowieso wieder sauber sein würde. Doch egal, was er tat: ein Schimmer verblieb auf seinen Lippen. Ein roter Schatten der Erinnerung. Eine Erinnerung, die ihn jagen würde.

Er griff zu seinem Handy, wusste lange nicht, was er schreiben sollte. Tippte Worte in das seltsam seelenlose WhatsApp und löschte sie wieder. „Gib mir etwas Zeit", tippte er schließlich, sendete es ab. Dann lief er weiter, während sich die Regenwolken endlich entluden und sein hellgraues Hoodie dunkelgrau färbten. Während sich die weichen Locken seiner Haare aushingen schwarzen Strähnen. Während seine Sneakers komplett durchweichten.

Und letztlich, da wusch der Regen den Lippenstift doch noch fortwuschen.


Ich hoffe, es gefällt euch, meine Lieben... Ich muss sagen, das ist bisher mein Lieblingskapitel. Es zeigt seine Tiefe und Zerrissenheit. Soll ich weitere Kapitel auch aus seiner Sicht schreiben? 

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt