7. Tod zwischen den Zeilen

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In den nächsten Tagen stellte sich heraus, dass der Tod sehr wohl wusste, wie man WhatsApp bediente. Sicher hatte ihm ein Geist gezeigt, wie man die App herunterladen konnte. Oder er hatte einen Menschen angesprochen, der ihn danach blitzschnell wieder vergessen hatte. So oder so, drei Tage nach ihrer abendlichen Sightseeingtour schrieb er ihr. Sie saß gerade am geschlossenen Infoschalter zwischen Selma und Ulrike, als ihr Handybildschirm aufflackerte. Da gerade keine Studierenden in der Warteschlange standen und sie sich um den Papierkram der Bibliothek kümmerte, nahm sie das Handy in die Hand und öffnete die App.

„Hast du deine hohen Schuhe schon poliert?", stand dort geschrieben. Tilda sog vor lauter Überraschung einen pfeifenden Atemzug ein. Das Geräusch lies sowohl Selma als auch Ulrike aufblicken.

„Ist etwas mit deiner Tante geschehen?", fragte Ulrike, Besorgnis in ihren Augen. Schließlich waren emotionale Regungen von Tilda eher selten. Außer wenn es um Bücher ging.

„Nein", sagte Tilda. Die Röte war wieder in ihre Wangen gekrochen, ließ sie aussehen, als hätte sie zu viel Sonne abbekommen.

„Was ist denn dann passiert?", fragte Ulrike, ihre Neugier war geweckt. Überhaupt war Ulrike der neugierigste Mensch auf der Welt. Einmal, da hatte sie Ulrike dabei erwischt, wie sie den Kühlschrank im Pausenraum geöffnete hatte und in den Brotdosen der Mitarbeitenden gestöbert hatte. Nur um zu erfahren, was sie denn heute alles dabeihatten. Nun war guter Rat teuer, sie musste Ulrike abschütteln.

„LL... Liebesschwindler", sagte Tilda, es war das erste Wort, das ihr in den Sinn kam. „Die beste Freundin meiner Tante hat ganze 5.000 Euro an einen Liebesschwindler aus Afrika verloren." Jackpot. Ulrike riss ihre Augen auf.

„Unglaublich. Die Arme. Ich werde ständig von jungen Männern angeschrieben, die in mir angeblich die Liebe ihres Lebens sehen. Ich wette, das ist genau die gleiche Masche." Auch Selma nickte. „Wie alt ist die Freundin deiner Tante?"

„Über 80", antwortete Tilda.

„Oje", entgegnete Ulrike. „Und ich dachte, ich sei bald aus dem Gröbsten raus. Nirgendwo ist man mehr sicher. Auf Tinder nicht, auf Facebook auch nicht. Wo soll man denn noch jemanden kennenlernen?" Als hätte das Schicksal jedes ihrer Worte mitgehört, trat plötzlich ein wirklich gutaussehender junger Student an Ulrikes Infoschalter und legte ein Buch vor sie. „Oh, hallooo!", entgegnete Ulrike, setzte sich aufrecht hin, reckte ihr mächtiges Dekolleté nach vorne und war ganz Ohr.

Tilda atmete aus. Sie hatte es geschafft, der Aufmerksamkeit von Ulrike war sie entkommen. Sie wartete noch einige Minuten, bis auch Selma wieder in ihre Arbeit am Computer vertieft war, dann nahm sie ihr Handy erneut zur Hand. Ein Wort schrieb sie ihm zurück:

„Hochglanz." Vor ihrem inneren Auge konnte sie ihn lächeln sehen, ihr inneres Ohr hörte seine raue Lache. Dabei kribbelte es leicht in ihrem Bauch. Wo er wohl gerade war? Sicherlich irgendwo in dieser Welt unterwegs, wie hätte er sonst Empfang? Oder, funktionierte das überhaupt so? Womöglich überlagerten sich die Welten? Und Empfang gab es überall? Und hatte er nicht etwas von Nischen erzählt?

„Alles klar bei dir?", fragte Selma und riss sie aus ihren wirren Gedanken. „Du starrst seit einigen Minuten auf den Bildschirm und bewegst dich nicht." Tilda verzog ihr Gesicht.

„Sorry. Ja, alles klar bei mir. Ich hänge in Gedanken noch immer dem Liebesschwindler hinterher." Auch Selma nickte, nur war sich Tilda nicht sicher, ob sie sie voll und ganz überzeugt hatte. Es war gefährlich, Menschen zu nah an sich heran zu lassen. Konnten sie sie erst einmal lesen, da wurde es schwerer und schwerer Geheimnisse vor ihnen zu verbergen. Und es gab mindestens zwei Geheimnisse, die sie um jeden Preis hüten musste.

So traute sich Tilda ihr Handy erst wieder in die Hand zu nehmen, als sie allein auf der Toilette saß. Sie öffnete WhatsApp und sah sofort, dass er ihr bereits geantwortet hatte.

„Zu schade, dass ich in den nächsten Tagen keine Zeit habe, mir das genauer anzuschauen. Da werde ich mich wohl etwas gedulden müssen", hatte er geschrieben. Während sie das Handy sinken ließ, nagte die Enttäuschung etwas an ihr. Nach dem letzten Abend hätte sie ihn gerne bald wieder gesehen. Sie hatte noch so viele Fragen. Ganz vorneweg die nach dem richtigen Handyempfang. Außerdem wollte sie ihn nach den Weltentoren fragen, nach den Gängen und nach den Nischen. An den letzten beiden Abenden, als sie vor dem Einschlafen noch etwas länger wachgelegen hatte, da hatte sie beschlossen, eine imaginäre Frageliste zu starten. Und diese war bereits gut gefüllt. Es kam ja nicht alle Tage vor, dass man den Tod traf, bevor seine Zeit abgelaufen war, oder? Und wenn man sich schon mit ihm angefreundet hatte, da musste man das auch ausnutzen. Hoffentlich war er bei ihren Fragen etwas toleranter und gesprächiger, als er es bei seinem ominösen Chef gewesen war.

Denn je länger Tilda darüber nachdachte, ihm einige Fragen zu stellen, je stärker bemerkte sie, wie wichtig ihr die Antworten waren. Besonders eine Frage brannte ihr unter den Nägeln. Noch nie hatte sie es gewagt, diese Frage laut zu denken, geschweige denn laut auszusprechen. Aber sie war da, seit sie denken konnte. Schien irgendwie in ihre Seele eintätowiert zu sein. Und so brannte Tilda darauf, ihn wieder zu sehen, denn sie musste ihm diese eine Frage stellen.

„Stressig Zeit an der Arbeit?", schrieb sie ihm zurück, bevor sie die Toilettenkabine verließ. Sie wollte den Chat-Faden einfach nicht abreißen lassen. Sie wusch sich die Hände und trat zurück in die Bibliothek. Den ganzen Tag über rührt sie ihr Handy nicht an, packte es in ihre Handtasche und versuchte es zu vergessen. Erst, als sie zu Abend gegessen hatte und sich auf ihren Lesesessel vor dem Wohnzimmerfenster setzte, warf sie einen nächsten Blick darauf. Eine Nachricht vom Tod.

„Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagen, dass wir hier noch Listen führen? Mit Feder und Pergament? Und dass diese Listen von Zeit zu Zeit korrigiert werden müssen?" Sie war ein wenig enttäuscht. Das klang sehr langweilige.

„Bist du in irgendeinem Kerker festgekettet, während du die Aufgabe erledigst?" Nachdem sie die Nachricht abgesendet hatte sah sie, dass er online war. So musste sie nicht lange auf eine Antwort warten.

„Nicht ganz. Ich sitze an einem Schreibtisch."

„Deswegen der Bewegungsdrang bei der Sightseeingtour vor ein paar Tagen?"

„Vermutlich ja", tippte er zurück.

„Du weißt, dass ich eine ganz brauchbare Bibliothekarin kenne, die sich ziemlich gut mit Listen auskennt? Möglicherweise kann sie dir helfen", schrieb sie und sendete einen Schlaumeier-Smiley hinterher. Gespannt wartete sie auf seine Antwort, während sie sich auf dem Sessel ausstreckte und unter die Decke kuschelte. Draußen war die Sonne längst untergangen und es wurde dunkel, während sie das Handy wie sonst eines ihrer Lieblingsbücher in der Hand hielt. Tristan schreibt... konnte sie lesen.

„Ich glaube in eurer Welt nennt man so etwas Datenschutz." Sie kicherte. Wollte ihr der Tod erklären, was Datenschutz war?

„Dein Ernst?", schrieb sie ihm.

„Sicher. Mein Chef ist in diesem Bereich besonders streng."

„Und deshalb darfst du auch nicht über ihn reden?"

„Genau."

„Wie engmaschig sind diese Regeln... Darfst du über ihn schreiben?"

„Tilda", war seine Antwort und sie kicherte.

„Nennst du ihn Chef? Oder etwas.... Gott? Oder eher... Teufel? Oder ist es gar eine Frau?"

„Tilda!" Sie lachte, konnte seine Irritation zwischen den Zeilen spüren. Sie mochte es, ihn aus der Fassung zu bringen.

„Ist ja gut." Auf der anderen Seite war sie gerade so in Stimmung und wollte nicht das digitale Gespräch mit ihm verlieren. „Wähle du ein Thema. Ich bin gerne behilflich, wenn du für einige Minuten Zerstreuung von deiner schwierigen Aufgabe benötigst."

„Du bist zu gütig, Fräulein Tilda", sagte er, seine Laune scheinbar wieder besser. „Sag mir, hast du jemals Urlaub gemacht?" Tilda zog die Augenbrauen zusammen. Diese Frage war seltsam. Aber dennoch begann sie zu schreiben. Und daraus ergab sich ein leichtes, unverfängliches Gespräch, was den ganzen Abend anhielt. Und wieder einmal stellte sie fest, dass sie die digitale Anwesenheit des Todes beinahe genauso genießen konnte, wie ihre Dates im wahren Leben.   

Aber die eine Frage, die ihr so wichtig war, hatte sie noch nicht stellen können. 

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt