12. Tod auf der Rolltreppe

176 16 0
                                    

Tilda hatte ihr Handy auf lautlos gestellt, nachdem der Tod zum ersten Mal angerufen hatte. Ein Tag war vergangen seit dem schrecklichen Vorfall vor dem Starbucks an der Ecke. Sie war zusammengezuckt, als das Handy geklingelt hatte, selten rief sie jemand unangekündigt an. Als sie dann seine Nummer gesehen hatte, hatte sich ihr Herzschlag beschleunigt.

Dennoch sie war nicht bereit, mit ihm zu sprechen. Sie drehte das Handy um und legte es auf den Boden neben dem Bett, sodass sie nicht aus Versehen danach griff. Viel zu wütend war sie noch auf ihn. Und dazu noch etwas eingeschüchtert. Hatte sie ihn doch tatsächlich zum ersten Mal in Action gesehen. Auch, wenn der seltsam lebensmüde Geist eigentlich die ganze Arbeit gemacht hatte und der Tod nur danebengestanden hatte. Keine Kung Fu Moves wie beim Kampf mit dem Geist vor dem Supermarkt, keine Actionszenen mit Handschallen, keine spektakulären Stunts. Dennoch hatte der arme Geist genau das getan, was er wollte. Und er hatte kein Erbarmen gezeigt und ihn zu seinem Körper zurückkehren lassen. Das beschäftigte Tilda, sie konnte noch immer die leblose aber warme Hand des Verletzten in der ihren spüren. Sah sein Gesicht noch vor ihrem inneren Auge. Fragte sich, ob er eine Familie hatte. Freunde.

Nein. Sie wollte nicht mit dem Tod sprechen. Nicht jetzt, und möglicherweise nie mehr. Was die Zukunft betraf war sie sich noch nicht ganz mit sich selbst einig.

Das alles führte dazu, dass ihre sowieso schon vorhandene schlechte Laune noch zunahm und sich ins Unermessliche steigerte. Als sie am Donnerstag an die Arbeit kam, trauten ihre Freundinnen sich kaum, sie anzusprechen.

„Aber, du meldest dich, wenn wir was für dich tun können?", fragte Selma vorsichtig. Tilda nickte nur. „Und du bist dir sicher, dass es dir grundsätzlich gut geht?" Wieder nickte sie. Dann verließ sie den Personalraum und stürzte sich in die relative Leere der Bibliothek. Am Freitag war ihre Laune so am Boden, dass sie sich glatt noch eine Erkältung einfing. Erst begann ihr Kopf leichter zu werden, dann schmerzten ihre Glieder und schließlich begann der Hals zu brennen und die Nasen-Nebenhöhlen zuzuschwellen. Als Ulrike sie nach Hause schickte, war es beinahe zu spät und mit letzter Kraft schleppte sie sich das Treppenhaus ohne Lift nach oben zu ihrer Wohnung. Sie öffnete die Tür, zog all ihre Kleider im Flur aus und legte sich in Unterwäsche unter die warme Bettdecke.

Was für ein jämmerliches Häufchen Elend sie doch war. Das kommt davon, dachte sie, wenn man sich in uralte mystische Wesen verliebt. Hatte sie ihn doch nur niemals angesprochen. Hätte sie ihm niemals ihre Nummer gegeben. Vermutlich hätte er sie trotzdem gefunden. Schließlich war er... er. Und wie sagte ein altes Sprichwort? Dem Tod war nicht zu entkommen. Zumindest ihr Handy hatte sie in der Arbeitstasche gelassen, die im Flur lag, vergraben unter ihrem Kleiderberg. Lautlos.

So blieb sie zwei Tage im Bett liegen, verkrochen unter ihrer extrabreiten Decke. Nur zum Tee- und Essen-machen und zum Taschentücher-Nachschub-holen verließ sie ihr Krankenlager. Es musste erst Samstagabend werden, bis sie sich zu ihrer Wohnungstür traute, die Tasche ausgrub und ihr Handy zur Hand nahm. Die Nachrichten und Anrufe vom Tod ignorierte sie gekonnt. Tante Ilse sagte sie für den kommenden Tag ab. Und Ulrike und Selma überzeugte sie davon, nicht mit der Polizei die Tür aufbrechen zu lassen. Etwas amüsiert von dieser Nachricht traute sie sich, das Handy mit ins Schlafzimmer zu nehmen und sie legte es auf den Nachttisch, wieder mit dem Gesicht nach unten.

So verschlief und verlas sie einen weiteren Tag, bis es langsam aufwärts ging. Aber da die Nasen-Nebenhöhlen einfach nicht frei werden wollten, musste sie am Montagmorgen zum Arzt ihres Vertrauens. So band sie die fettigen Haare zu einem Zopf, wickelte sich einen meterlangen Schal um den Hals und zog sich die bequemsten Leggins an, die sie finden konnte. Sie schleppte sich die Treppen hinunter und fuhr mit dem Taxi zum Arzt, sonst wäre sie vermutlich nie dort angekommen.

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt