13. Tod auf der Parkbank

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In den nächsten Tagen rang Tilda mit sich, ob sie zu ihrem Wort stehen sollte. Sollte sie ihn wirklich treffen? Oder sollte sie ihn klangheimlich mit samt seiner Nummer aus ihrem Leben löschen? Der Schock saß noch immer tief. Schließlich hatte sie den Tod geküsst! Der Leben auslöschte und Seelen in eine andere Welt begleitete. Und nicht nur die von Geistern, die schon seit Jahrhunderten herumirrten! Nein, Seelen von wirklich, lebendigen, echten Menschen! Das Wissen hatten sie eiskalt erwischt.

Er meldete sich nicht mehr bei ihr, was sie gut fand. Damit gab er ihr die Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Und das tat sie. Es vergingen Stunden, in denen sie grübelnd in der Dunkelheit saß. Immer wieder hörte sie Tante Ilses Stimme in ihrem Kopf widerhallen: „Tilda, hab keine Angst vor dem Leben! Es holt dich ein, egal wo du dich versteckst. Selbst in deiner muffigen Bibliothek wird es dich finden, das Leben!" Und sie musste sich selbst eingestehen, dass Tante Ilse meist Recht behielt. So war es schon immer gewesen.

Es war weit nach Mitternacht, als sie ihm schließlich doch schrieb.

„Ich bin bereit, es mir anzuhören", tippte sie und sendete es ab. Es dauerte nicht lange, da konnte sie sehen, dass er ihr zurückschrieb. Ungeduldig wartete sie.

„Das freut mich, Tilda. Triff mich am Dienstag nach der Arbeit auf der Bank an der Donau." Die Bank, auf der ihr Magen geflattert hatte vor Glück und Aufregung. Auf der sie ihren Lippen kaum hatte trauen wollen. Und auf der sie allein und verlassen im Regen gesessen hatte, nachdem er davongelaufen war. 

In jeder Nacht bis zum Dienstag hatte Tilda darüber nachgedacht, ihr Treffen doch noch abzusagen. Oder einfach nicht aufzutauchen. So würde sie es sich ersparen, ihn noch einmal sehen zu müssen. Sie würde die Gefahr beseitigen, nochmal schwach zu werden. Aber letztendlich, da war sie doch über die Donauinsel zur Bank gestapft. Sie trug kein Kleid und keine Pumps, Makeup hatte sie auch nicht aufgelegt. Sie kam als ihr unsichtbares Ich. In abgetragenen Leggins und einem langen, schwarzen Hoodie.

Sie sah ihn schon von weitem, wie versteinert saß er auf der Bank. Als Tilda sie erreichte, setzte sie sich ans andere Ende und blickte ihn nicht an.

„Tilda. Danke, dass du gekommen bist", begrüßte er sie. Sie nickte.

„Erklär es mir", sagte sie ohne Umschweife. Dann hörte sie ihn tief seufzen.

„Das ist alles nicht so einfach, Tilda. Normalerweise erkläre ich Dinge nicht. Ich tue Dinge. Erledige meine Aufgaben. Schon all die Jahrhunderte. Und jetzt kommst du und stolperst da so rein. Du musst verstehen, dass es auch neu für mich ist." Sie nickte und hielt ihren Blick fest auf die breite Donau gerichtet. „Was du wissen musst ist, dass alles Leben ein Drehbuch hat, Tilda. Manche nennen es Schicksal, andere Karma, wieder andere Gottes Wille. Kein Mensch kann es auf Dauer ändern, nur geringfügig beeinflussen. Auch ich nicht, denn ich bin nur der Bote, der zwischen den Welten vermittelt. Wird eine Seele freigesetzt, die nicht sofort den Weg hinüber findet, so geleite ich sie. Ist eine Seele schon länger verloren, dann fange ich sie ein und bringe sie hinüber. Denn jede Seele, die einmal richtig von ihrem Körper getrennt ist, muss hinüberschweben. Nur so kann ihre Substanz in eine neue Seele übergehen und der ewige Kreislauf am Leben gehalten werden." Er stockte. „Und dafür sorge ich. Das ist meine Natur, mein Wesen. Ich kann es nicht ändern, auch wenn ich es wollte. Auch nicht für dich, Tilda." Er räusperte sich. „Selbst für mich nicht", fügte er etwas traurig hinzu. Lange saßen sie so da und starrten vor sich hin. Tilda hing ihren Gedanken nach und der Tod traute sich nicht, sie dabei zu unterbrechen. Schließlich hatte er ihr eine ganze Menge zum Nachdenken gegeben.

„Aber fühlst du nichts dabei, wenn du all diese Menschen mitnimmst?" Ihre Stimme kratzte etwas und der Tod zuckte mit den Schultern.

„Ach", seufzte er. „Ich mache das schon so lange, dass ich mich kaum an etwas anderes erinnern kann. Und ich kenne die anderen Welten, wandere Tag ein Tag aus durch die unzähligen Tore. Ich weiß, dass es kein schlechter Ort ist, an den ich die meisten bringen. So reiche ich ihnen die Hand und mache ihnen die Reise so leicht wie möglich." Tilda nickte, schwieg weiter. Es würde ein langer Abend werden, so viel gab es in ihrem Kopf hin- und herzuräumen.

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt