Epilog: Tante Ilse forever

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Alles war sehr schnell gegangen, als der Tod an ihrem Geburtstag aufgetaucht war. Genauso, wie er es versprochen hatte.

„Ich gebe dir ein Jahr, genau ein Jahr und nicht länger." Das hatte er an ihrem 80. Geburtstag gesagt und an ihrem 81. Geburtstag hatte er vor der Tür gestanden. Am Arm ihrer geliebten Nichte, die wie eine Tochter für sie war. Und wie Tilda gestrahlt hatte. Von innen heraus hatte sie geleuchtet. Mit nervösem Blick, nur darauf bedacht, dass Ilse diese Verbindung gutheißen würde. Aber wie konnte sie? Schließlich war ihr Freund der Tod höchstpersönlich. Der hier war, um sie zu holen.

Während sie die Gäste mit Kaffee und Kuchen bedient hatte, hatte sie also einen Plan geschmiedet. Tildas Idee, zum Geist zu werden und für immer in ihrer Umgebung herumzuspuken, hatte sie sowieso nie ernst genommen. Viel zu langweilig wäre das gewesen. Wenn sie nicht mal ein Buch hätte anfassen können, geschweige denn umblättern! Aber wie sie so allein in der Küche Kaffee kochte, war ihr eine andere Idee gekommen:

Was wäre wenn... Was wäre wenn sie mit dem Tod die Rollen tauschte? Wenn sie nicht hinüber ging und Tilda im Blick behalten konnte, und ihr dafür die Liebe schenkte? Für ein paar Jahrhunderte konnte sie sich das schon ansehen. Und wenn sie dann wusste, auf was sie sich da einließ, konnte sie ja schließlich weiterziehen. Das hatten andere sicher schon vor ihr getan.

Also rief sie den Tod in ihre kleine Küche und teilte in knappen Worten ihren Plan mit ihm. Zu seinem Vorteil musste Ilse erwähnen, dass er herzlich blass wurde, als sie zur Sache kam. Hatte erst protestiert, dann den Kopf geschüttelt und schließlich, da hatte er vorsichtig gelächelt. Es war ein hübsches Lächeln und Ilse konnte verstehen, warum es Tilda verzaubert hatte.

„Ich muss das noch mit meinem Chef besprechen", hatte der Tod gesagt und sich wie ein lupenreiner Beamter verhalten.

„Mach das", hatte sie geantwortet.

„Nur mitnehmen muss ich dich dennoch."

Und dann war alles so schnell gegangen, wie in Zeitraffer. Sie hatte sich immer vorgestellt, dass das Leben wie ein Film an ihr vorbeizog, bevor es zu Ende ging. Doch in ihrem Fall hatten sich die Ereignisse überschlagen. Eine wahre Gefühlsexplosion hatte ihr Wohnzimmer erschüttert. Sie hatte Tildas Wut gespürt, ihre Verzweiflung, ihre Enttäuschung und so viel Liebe. Tief empfundene Liebe, die sich über Jahrzehnte zwischen ihr und Tilda aufgebaut hatte. Liebe, die sie ihr weiterhin aus der Ferne geben konnte, während sie sie und den Tod im Blick behielt.

Und so war Ilse selbst zum Tod geworden. Für ein paar Wochen hatte Tristan sie noch unterwiesen. Das war der Handel mit seinem unnachgiebigen Chef gewesen. Beinah so spießig wie im öffentlichen Dienst, hatte sie gedacht. Aber nun wusste sie, was sie wie und wann zu tun hatte. Sie legte sich ein neues Outfit zu, vergaß all ihre körperlichen Gebrechlichkeit und genoss die Vorzüge eines unsterblichen Lebens.

Tag für Tag und Nacht für Nacht zog sie durch die einsamen, schwarzen Gänge und öffnete Türen, die überall auf der ganzen Welt herauskamen. Sie schlenderte durch New York, durch Peking, besuchte den Südpol, wanderte um den Bodensee und betrat das nächtliche London. Überall war sie auf einer Mission, aber nie vergaß sie, den Moment zu genießen. Die Schönheit der Erde. Denn schon immer war sie ein rastloser Geist gewesen, ihre Seele unruhig, wenn sie zu lange an einem Fleck war. Aber durch Tilda war sie lange an einem Fleck geblieben – bis jetzt. Jetzt war sie frei. Zwar hatte sie Aufgaben zu erfüllen, und das nicht zu knapp, aber sie tat es mit Leidenschaft.

Konnte es einen besseren Weltenbote geben als eine schrullige, alte Tante? Die mit weisen Augen auf die verwirrten und verängstigen Seelen herabblickte? Die jeden Geist mit ihrer Kung Fu Technik überraschen konnte? Die mit wenigen, gut gewählten Worten, das erzielte, wofür Tristan deutlich länger benötigt hatte?

Kurzum: Ilse war in ihrem Element angekommen. Sie fühlte sich gut, half Seelen auf ihrer letzten Reise und machte selbst eine riesig große Reise durch diese Welt, und durch alle anderen. Ilse war sich nicht sicher, ob sie diesen Job jemals wieder hergeben würde.... Auch, wenn es offiziell nur eine lange Pause war, so hatte sie verdammt viel Gefallen daran gefunden.

Denn so hielt man es aus, dachte sie. Noch ein paar weitere Jahrhunderte... 

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt