„Ich warne dich, Tristan!", donnerte Tilda. Ihre Augen blitzten vor Wut. „Wenn du sie mitnimmst, trennen sich unsere Wege für immer." Sie war vom Sofa aufgestanden und hatte die Hände in die Hüften gestemmt.
„Tilda", stammelte er, das Gesicht schmerzverzehrt.
„Nie wieder spreche ich mit dir, ich werde dich vergessen. Jedes Gespräch, jeden Kuss, jede Sekunde. Du wirst nicht mehr als ein Schatten auf meiner Seele sein."
„Tilda", versuchte er es erneut, doch Wut und Trauer versperrten den Weg.
„Ich werde dich hassen, für immer! Wie kannst du mich so hintergehen! Du weißt, was sie mir bedeutet!"
„Tilda!", donnerte diesmal die Stimme von Tante Ilse, die von beiden unbemerkt ins Zimmer getreten war. „Hör mir zu." Da schaute Tilda auf. Tante Ilse trat einige Schritte an sie heran und nahm ihre Hand zärtlich. „Liebchen, du musst mich gehen lassen, es ist mein Wunsch!" Tilda stutzte, die Überraschung traf sie tief in ihrem Innersten. „Erinnerst du dich an meinen letzten Geburtstag?", fragte sie sanft. Wie hätte sie ihn vergessen können? „Der Tod war zu Gast um mich zu holen. Ich habe bis aufs Blut mit ihm gefeilscht und einen Handel abgeschlossen: Friedlich würde ich ihm folgen, wenn er mir dafür ein Jahr schenkt. Er hat sein Versprechen gehalten, nun halte ich meines."
„Aber Ilse!" Tränen liefen über Tilda Gesicht, während der Tod aufgestanden war und sich tiefer in die Schatten des leeren Wohnzimmers zurückzog. „Du solltest doch für immer bei mir bleiben."
„Mein Kind." Tante Ilse umarmte Tilda fest. Sie roch nach Lavendeltee, nach Kaschmirwolle, nach Eierlikör und Kölnisch Wasser. Aber vor allem roch es nach Heimat. „Du willst doch dein Leben nicht mit einem runzligen Geist an den Fersen verbringen. Sieh mich an, all die Erfahrungen, die ich gemacht habe. All die Freude, all den Schmerz. Jede Sekunde war es wert, gelebt zu werden. Jedes Gespräch, jede gemeinsame Reise, jedes Glas Eierlikör in deiner Gesellschaft." Sie ließ Tilda los und strich ihr über die Wange.
„Du hattest nie vor zu bleiben?" Traurig schüttelte Tante Ilse mit dem Kopf.
„Nein, Tilda. Das nächste Abenteuer wartet auf mich." Sie begann zu schluchzen, aber Tante Ilse griff nach ihren Schultern. „Deines hat doch gerade erst begonnen." Ihre Augen suchten für eine Sekunde den Raum ab, dann warf sie dem Tod einen durchdringenden Blick zu. „Hör auf, dich vor der Welt zu verstecken, in deiner muffigen Bücherei. Die Enttäuschung kann dich überall einholen, auch dort. Aber die wirklichen Wunder der Welt wirst du dort nicht finden. Lebe, Tilda, verstecke dich nicht." Sie küsste sie auf die Wange, dann ließ sie sie los.
„Geh' nicht", hauchte Tilda, aber es klang so hoffnungslos.
„Keine Sorge, mein Kind. Wir sehen uns wieder, am Ende deiner Geschichte. Das hat er mir versprochen. Lebe dein Leben so maßlos, wie ich es getan habe. Sammle alle Erlebnisse ein, mache alle Fehler, die du nur machen kannst und ernte das Glück des Augenblicks. Dann, in 60, 70 oder 80 Jahren komm zu mir rüber. Und erzähle mir davon, ja?" Dann wandte sie ihren Blick ab, suchte den Tod. „Darf ich bitten, Herr Gevatter?" Der Tod trat mit düsterer Miene aus dem Schatten an Tante Ilses Seite. Tilda wollte noch so viel sagen, aber ihr fehlten die Worte.
„Tante Ilse", flüsterte sie, als diese ihr ein letztes Mal zulächelte. „Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Danke für alles."
„Du bist das Licht in meinem Leben gewesen, Kind. Lebe wohl", sagte sie mit trauriger Stimme.
„Auf wiedersehen", presste Tilda unter Tränen hervor. Dann sah sie zu, wie Tante Ilse vor dem Tod durch die Wohnzimmertür trat. Ganz so, als wollte sie ihn nur zur Tür begleiten, sich nur von ihm verabschieden, und dann die Tür von innen schließen.
Die ganze unerwartete Situation hatte Tilda überrumpelt, völlig aus der Bahn geworfen. Schock und Trauer lähmten sie, ließen sie völlig erstarren. Selbst die Tränen hielten inne. Es dauerte Minuten, bis sie sich lösen konnte, dann lief sie den beiden nach. Trat durch die Tür in den Flur. Nichts. Dann in den Hausflur. Nichts. Dann rannte sie nach unten und öffnete die Haustür. Doch auch hier war niemand zu sehen, weit und breit.
Sie fand nichts, außer einem Hauch Abendluft, die leicht nach Kölnisch Wasser duftete.
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Tilda und der Tod | ✔️
Fantastique„Hast du ein Handy?", fragte der Tod sie plötzlich. So plötzlich, dass er sie aus den Tiefen ihrer Tagträume riss. Sie nickte. „Warum?" „Gibst du mir deine Nummer?" Röte stieg in ihre Wangen, so schnell, dass sie es nicht verhindern konnte. Um sie...