Tilda wusste selbst nicht so genau, wie das eigentlich hatte passieren können. Aber feststand: Sie saß an der reichlich gedeckten Kaffeetafel von Tante Ilses 81. Geburtstagsfeier, inmitten von Ilses leicht skurrilen Freunden. Und neben ihr saß, etwas blass und nervös, der Tod. So wirklich beachteten die anwesenden Gäste ihn nicht, ein Phänomen, an das sich Tilda bereits gewöhnt hatte. Er hatte er diese Reaktion auf normale Menschen. Schnell vergaßen sie alle, dass er da war. Selbst in dieser Runde, in der etliche Jahre geballte Lebenserfahrung aufeinandertrafen.
Nur Tante Ilse ließ sich nicht täuschen. Natürlich nicht.
Nachdem sie die vielen Stufen durch das vertraut duftende Treppenhaus nach oben gestiegen waren, waren sie ganz außer Atem oben angekommen. Tilda hatte dem Tod einen nervösen Seitenblick zugeworfen und ihn atemlos gemustert.
„Bist du bereit?", hatte Tilda ihn gefragt und er hatte nur mit den Schultern gezuckt. Sie hatte seine Hand genommen und an der Tür geklingelte. Es hatte nur Sekunden gedauert, dann hatte Tante Ilse von innen geöffnet. Nachdem sie Tilda schwungvoll umarmt hatte, hatte sie den Tod auffallend skeptisch gemustert. Während Tilda bereits über die Schwelle getreten war, hatte Tante Ilse lange seine Hand festgehalten und ihn angestarrt. Ihn beinahe mit ihren Blicken durchbohrt. Natürlich, hatte Tilda gedacht, ihr entging nichts. Auch nicht, dass ihr Liebhaber der Beelzebub war. Tante Ilse war eben.... Tante Ilse. Ihr konnte niemand etwas vormachen. Nicht mal der Tod.
„Kommt rein, Kinderchen, nehmt Platz", hatte sie schließlich etwas außer Atem gesagt und sie in die mit lautem Geschnatter gefüllte Wohnstube geführt, die gewohnte Duftwolke von Kölnisch Wasser folgte ihr.
Und da saßen sie nun, aßen Schwarzwälder Kirschtorte und tranken Eierlikör. Dabei lauschten sie dem turbulenten Gebrabbel der Senioren um sich herum. Unter dem Tisch hielt der Tod Tildas Hand, umklammerte sie förmlich. Immer wieder zog er mit dem Daumen kleine Kreise auf ihrem Handrücken. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gedacht, dass der Tod fürchterlich nervös war.
Nachdem der Kuchenhunger und der Kaffeedurst gestillt waren und Tilda das schmutzige Geschirr abgeräumt hatte, bat Tante Ilse den Tod ganz beiläufig um Hilfe in der Küche.
„Wenn ich auf meine alten Tage schonmal einen starken, jungen Mann im Haus habe", sagte sie mit einem Augenzwinkern zu ihren Freunden und vor allem die betagten Herren am Tisch lachten schallend.
„Sehr gerne", antwortete der Tod, ließ Tildas Hand los und lief der alten Dame hinterher. Für eine Sekunde war Tilda überrascht, dass Tante Ilse die Tür hinter sich schloss, aber sie vergaß den Gedanken schnell wieder, als das Gespräch sich in die Richtung von Heikes Liebesschwindlers wendete.
So fand sie sich allein am Tisch, umgeben von schnatternden und lachenden Senioren, als ein Handy neben ihr plötzlich piepte. Niemand reagiert. Sie musterte es genauer und stellte fest, dass es dem Tod gehörte und dass er es am Tisch vergessen hatte. Überrascht zog sie es etwas näher zu sich. Der Bildschirm war erleuchtet und sie erkannte, dass er eine Nachricht bekommen hatte. Ein schelmisches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als sie den Absender erkannte: „Chef". Neugierig beugte sie sich vor und versuchte, die kleine Schrift auf dem Display zu entziffern. Wenn er schon nicht über seinen geheimnisvollen Chef reden wollte, dann kam sie womöglich auf diesem Wege an weitere Informationen.
„Keine Diskussion. Ilses Zeit ist schon lange abgelaufen!", war auf dem Display zu lesen.
Unter das Seniorengeschnatter mischte sich ein Donnergrollen, das nur in ihrem Kopf existierte. Lauter und lauter wurde es, füllte den Raum und ließ Blitze der Wut durch ihr Innerstes zucken. Selbst, als sie noch zu geschockt war, um die wahre Bedeutung der Worte zu verstehen, hatte eine Gänsehaut bereits ihren kompletten Körper überzogen. Ilses Zeit ist schon lange abgelaufen!, hallte es in ihrem Kopf wieder. Immer und immer wieder. Was hatte das zu bedeuten? Es war vermutlich kein Zufall, dass mit Ilse ihre Tante Ilse gemeint war? Aber warum in aller Welt unterhielt er sich mit seinem Chef über Tante Ilse?
Außer...
Nein.
Das konnte nicht sein.
Unbemerkt von ihr war der Tod in diesem Moment zurückgekehrt und hatte neben ihr Platz genommen. Nichtsahnend legte er eine Hand routiniert auf ihren Oberschenkel, während er mit der anderen Hand nach seinem Handy griff und einen Blick darauf warf. Zu seiner Verteidigung war zu sagen, dass all die verbliebene Farbe aus seinem Gesicht wich, als er die Nachricht las. Seine Augen weiteten sich und fuhren hinüber zu Tilda. Als sie seinen Blick einfing, konnte er die Wut und die Trauer bereits darin erkennen. Denn mit dem Donnergrollen war ein Sturm in ihren Augen aufgezogen.
„Tilda", flüsterte er, sie konnte die Panik in seiner Stimme hören.
„Nicht jetzt", schnitt sie ihn mit kalter Stimme ab. Sie wischte seine Hand von ihrem Oberschenkel. Und während in ihrem Innersten ihre gesamte Welt zusammenbrach, hielt sie die Tränen mit aller Kraft zurück. Sie biss sich so fest auf die Zunge, dass sie Blut schmeckte. Aber sie würde diese Feier von Tante Ilse nicht ruinieren. Um nichts in der Welt. War es doch vermutlich ihre letzte.
So wurde die letzte Tasse Tee ausgeschenkt, die letzten Eierlikörgläser ausgeschleckt, die letzten Kekse verspeist und die letzte Anekdote von anno Domini erzählt. Gast für Gast verließ die heitere Tafel, an der die Stimmung bis zuletzt fröhlich und unbeschwert gewesen war. Und niemandem fiel auf, dass Tilda so angestrengt gegen ihre Tränen und gegen ihre Wut kämpfte, dass sie aufgehört hatte zu sprechen. Wenn sich die älteren Herrschaften von ihr verabschiedeten, versuchte sie sich an einem Lächeln und winkte. Innerlich zählte sie die Gäste rückwärts, denn ihre Kraft drohte langsam zu schwinden. Und gerade, als Tante Ilse den letzten Gast zur Tür brachte, war all ihre Kraft verbraucht.
Als sie schließlich allein mit dem Tod auf dem Sofa in Tante Tildas Wohnzimmer saß, da explodierte sie.
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Tilda und der Tod | ✔️
Fantastique„Hast du ein Handy?", fragte der Tod sie plötzlich. So plötzlich, dass er sie aus den Tiefen ihrer Tagträume riss. Sie nickte. „Warum?" „Gibst du mir deine Nummer?" Röte stieg in ihre Wangen, so schnell, dass sie es nicht verhindern konnte. Um sie...