21. Tod ever after

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Der Winter war lang und verdammt hart. Er hatte Tilda Trauer und Tränen gebracht, und ein gebrochenes Herz noch dazu. Es kostete sie Wochen und unzählige Kannen Tee, bis sie wieder so etwas wie Zuversicht spüren konnte. Schließlich hatte sie mit Tante Ilse auf einen Schlag ihre gesamte Familie verloren. Und mit dem Tod ihre erste große Liebe. Beide waren sie zusammen durch die braune Wohnzimmertür in Tante Ilses Wohnung getreten und nie wieder zurückgekommen. Hatten Tilda allein gelassen. Zumindest beinahe.

Ilses Freundin Heike hatte eine Trauerfeier organisiert, an der all die Senioren erschienen waren, die Tante Ilse so nahegestanden hatten. Alle zusammen hatten sie plötzlich ihre Papierkalender auf den Tisch gelegt, um zu besprechen, an welchem Sonntag Tilda bei wem zum Abendessen eingeladen war. So kam es, dass sie weder an Sonntagen, noch an den Feiertagen allein sein musste. Denn auch Selma und Ulrike kümmerten sich um sie. Gaben sich große Mühe, sodass Tilda nicht vereinsamte. Und das allerbeste war, dass sie den Namen „Tristan" nie wieder erwähnten und keine Fragen mehr stellten.

Aber die Gesellschaft der anderen war nicht dasselbe wie die Gesellschaft von Tante Ilse oder dem Tod. Sie war ein Trost, aber konnte die klaffende Lücke in ihrem Herzen nicht annähernd schließen. Denn noch immer fühlte sie ihn, den Phantomschmerz. Tag und Nacht. Und immer, wenn sie gerade einmal nicht an Tante Ilse dachte, bahnte sich ihr einmaliger Geruch von Lavendel, Kaschmirwolle, Eierlikör und Kölnisch Wasser den Weg in ihre Nase. Mal nach dem Aufwachen, mal bei der Arbeit, mal lungerte er am Gehsteig. Immer stutzte sie, schaute sich um nach einer Spur von ihr. Immer vergebens. Hatte sie doch selbst gesehen, wie sie dem Tod gefolgt war.

Auch über Tante Ilses letzte Worte dachte sie nach. Sie war schon immer weise gewesen, selbst als sie jung war. Und dazu noch eine verrückte Nudel, die nichts mehr liebte als eine gute Tasse Tee und ein Abenteuer. Vielleicht war es gut so, vielleicht, nur ganz vielleicht, war es wirklich Zeit, sie gehen zu lassen? Sich nicht an ihren Geist zu klammern? Den Geist, dem sie in ihrer Wohnung so gerne ein Zuhause geboten hätte? Den sie eigentlich immer um sich herumhaben wollte, sobald sie von der Arbeit kam?

Als der Winter verschwand und Platz für den Frühling machte, ließ Tilda Tante Ilse und die Gedanken an ihren Geist ziehen. Sie trank einen Eierlikör und schaute sich all die Fotos an, die ihre gemeinsame Zeit festhielten. Unzählige Alben hatte Tante Ilse gefüllt, Alben, die nun ihr gehörten und in ihren Regalen neben ihren Lieblingsbüchern standen. Noch immer hatte sie Tränen in den Augen, wenn sie sich eines der Alben herauszog und hindurchblätterte.

So auch an diesem Abend, als sie in den Erinnerungen ihrer Marokkoreise schwelgte. Als sie etwas länger bei den Fotos verweilte, die Tante Ilse mit einem breiten Lächeln und einem noch breiteren Hut in einem schmalen Gang in den Gassen von Marrakesch zeigten. Da klopfte es plötzlich an ihre Tür. Mit abwesenden Gedanken und fernem Blick lief sie in den Flur und öffnete sie.

Davor stand der Tod.

In dunkler Jeans und grauem Hoodie, mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen. Er stand vor der Tür, so wie er dort unzählige Male schon gestanden hatte. Dennoch war alles anders.

„Was willst du hier?", fuhr sie ihn an, erblasst vor Überraschung und Wut. Auch, wenn sie wusste, dass Tante Ilse selbst entschieden hatte, zu gehen. Und auch, wenn sie ihm im tiefsten Inneren schon vor Wochen verziehen hatte. So war sie noch immer tief verletzt. Und verdammt verletzlich.

„Wenn du es erlaubst", sagte der Tod, seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben, „dann bleibe ich eine Weile." Tilda starrte ihn ungläubig an, schüttelte den Kopf.

„Du bist der Tod, du kannst nicht bleiben. Was geschieht mit all den verlorenen Seelen?" Ein vorsichtiges Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Ein Lächeln, das sie nicht kannte, noch nie in seinem Gesicht gesehen hatte. Ein Lächeln, das Hoffnung ausstrahlte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Die Wut verblasste etwas, das altbekannte Kribbeln begann sie anzunagen. Mit kleinen, spitzen Zähnen grub es sich durch ihre Arme, ihre Beine, bis hin zu ihrem Kopf. Da trat er einen Schritt auf Tilda zu und nahm ihr Gesicht vorsichtig in seine Hände.

„Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich eine Vertretung gefunden habe?" Tilda schüttelte den Kopf. Aber der kleine Rest Wut in ihr konnte nicht verhindern, dass sich ein winziges Lächeln auf ihre Lippen stahl.

„Wer könnte verrückt genug sein, dich zu vertreten?", fragte sie.

„Och, da gibt es schon einige Kandidaten." Sein Blick verließ ihre Augen, huschte zu ihren Lippen. Dann küsste er sie, die Lippen warm und weich. Und das Kribbeln breitete sich auf ihren ganzen Körper aus, so, als wäre es nie fort gewesen. Als hätte es sich nur versteckt, all die Monate, verborgen unter schwarzen Kleidern.

Irgendwann unterbrach er den Kuss und schaute ihr tief in die Augen. „Meine Frage war ernst gemeint: Darf ich bleiben?" Sie lächelte noch etwas zaghaft.

„Nur, wenn du den Müll rausbringst." Da legte er den Kopf in den Nacken und lachte laut. So laut, dass es im ganzen Treppenhaus widerhallte. „Und, wenn du dir mal etwas Vernünftiges zum Anziehen kaufst. Graue Hoodies und Jeans sind auch nicht mehr das, was sie mal waren."

Und während sie ihn mit einem versöhnlichen Lächeln auf den Lippen in die Wohnung ließ, blieb Tante Ilse leise und unsichtbar im Schatten des Treppenhauses zurück. Sie lächelte, strich sich über den schwarzen Rock, richtete das schwarze Kopftuch, umschloss die uralte Münze in ihrer Hand und machte sich auf den Weg zur nächsten Seele.

Niemand erfuhr, dass sie da war. Niemand sah oder hörte sie. Im Treppenhaus verblieb bloß ein hauchzarter Luftzug, der nach Kölnisch Wasser duftete.

Tilda und der Tod | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt