Ein schriller, stetig andauernder Ton riss mich langsam aber sicher aus meinem Schlaf. Heute stand wieder Unterricht auf dem Plan. Vormittags Balletttraining und nachmittags die anderen Fächer, die auch „normale" Schüler hatten. Ja, die International School of Dance war kein Zuckerlecken, aber das war mir von Anfang an klar. Wenn man Träume hatte, ist es oft nicht einfach, sie sich zu erfüllen und das nahm ich gern auf mich.
Nichts desto trotz war frühes Aufstehen nichts für mich. Mit einem leisen Brummen drehte ich mich auf die andere Seite, doch mein Wecker wurde nicht leiser. Anklagend sprang er förmlich auf meinem Nachttisch herum, mit dem Plan, mich so lange zu nerven, bis ich endlich auf stand.
Diesen Gefallen tat ich ihm nun. Ich schwang meine Beine aus dem Bett, gab meinem Kreislauf kurz Zeit, sich an die neue Position zu gewöhnen, ehe ich mich erhob, mein Handy mit einem Wisch zum Schweigen brachte und dann ins Bad schlenderte, wo ich mich fertig machte.
Träge drehte ich den Wasserhahn auf, wartete, bis die klare Flüssigkeit kalt genug war und beugte mich dann runter, um mir eine Hand voll klares Wasser ins Gesicht zu spritzen. Das tat gut. Danach fühlte ich mich immer gleich viel wacher. Im Anschluss folgte das Zähneputzen. Es war wie ein Ritual, ein Mantra, das immer gleich sein musste, da sonst irgendwas meistens schief lief. Einmal hatte ich vergessen, mir mein Gesicht zu waschen und auch wenn es lächerlich klang, klappte die Probe nicht. Ich tanzte, wie der letzte Idiot. Seitdem beschloss ich, immer an jede Kleinigkeit zu denken und sie der Reihe nach auszuführen. Wenn dann immer noch was schief ging, dann war es einfach ein beschissener Tag.
Guter Dinge, die Wut von gestern Abend komplett vergessen, ging ich mit der Zahnbürste im Mund zurück in mein Schlafzimmer, wo ich mir meine Trainingssachen aus dem Kleiderschrank holte. Eine schwarze, hautenge Leggings, die man aus Tanzfilmen und Serien kannte. Ich war eben gern ein Klischee. Dazu ein weißes Trägertop, welches genauso enganliegend war. Wir durften alle nichts lockeres tragen.
Unser Tanzlehrer Costa John meinte immer, dass wir was vertuschen wollen, wenn wir keine hautengen Dresse trugen. Seitdem war es so. Möglicherweise gab es irgendwo Tanzschulen, an denen es okay war, mal mit einem Schlabbershirt zu tanzen, aber hier nicht und was wo anders Kult war, konnte uns hier egal sein.
Schnell zwängte ich mich in die Hose und zog das Top an. Dann begab ich mich ins Bad, spuckte den Schaum aus, spülte mit Wasser nach und die Zahnbürste ab und war nun bereit für den Tag.
Unterm Gehen schnappte ich mir meine schwarze Sporttasche, die auf dem kleinen, hüfthohen Holzkasten neben der Eingangstür lag. Meine Spitzenschuhe waren in der Seitentasche verstaut. Ein Glück, dass sie bei meinem „Unfall" nicht verloren oder kaputt gegangen sind. June hatte sie wahrscheinlich gerettet oder auch die Sanitäter. Wer auch immer das getan hatte, ich war froh, dass ich meine nagelneuen Schuhe bei mir hatte. Hoffentlich bescherten sie mir ein paar Blasen weniger.Im Tanzsaal herrschte bereits reges Treiben. Die meisten Mädchen standen schon an der Stange und dehnten sich. Die anderen redeten miteinander oder stritten. Ganz normal. Gelassen ging ich ganz nach hinten, wo ein Regal mit Fächer war, in denen wir unsere Taschen während dem Training verstauen konnten. Es war in einem zarten Fliederton gehalten, der eher in die Pastellrichtung ging. Ich hatte eine Schwäche für Pastellfarben, aber die Farbe der Einrichtung war leider nicht das wichtigste hier.
»Hey, ich bin dir übrigens immer noch böse, wegen gestern«, ertönte die Stimme von June, als sie plötzlich neben ihm stand. Das Mädchen hatte sich ihre langen, braunen Haare zu einem strengen Dutt nach hinten gesteckt. Auch sie trug enge Sachen. Auf ihrem Gesicht lag allerdings ein Lächeln, welches mich sofort ansteckte.
»Mhm, du weißt, wie sehr ich dir das abkaufe«, schmunzelte ich und June grinste noch mehr.
»Nimm mich lieber ernst, sonst erlebst du mich mal richtig böse. So mit Stecknadeln in den Spitzenschuhen und so.« Nun lachte das Mädchen kurz auf. Ja, June und ich machten uns des öfteren über die Eifersuchtstaten mancher Mädchen lustig. Wir sahen beide einfach keinen Sinn darin, anderen noch mehr Schmerz anzutun, um dadurch eventuell eine Rolle zu bekommen, für die man nicht passte, weil man eventuell nicht gut genug war oder weil man sie nur durch Ausfall eines anderen ergattern konnte.
Für uns war immer klar, dass wir eine Rolle nur haben möchten, wenn wir auch ausgesucht wurden.
Ich ging mit meiner besten Freundin hinüber zu den Stangen und suchte mir mit ihr einen freien Platz. Dort fing ich dann an, mich aufzuwärmen. Zuerst ganz normale Übungen, wie hüftbreit hinstellen und sich zum Boden runter bücken. Als dies getan war, legte ich mein rechtes Bein auf die Stange und dehnte dort meine Sehnen. Durch die Zwangspause während meinem Krankenhausaufenthalt war ich ein ganz kleines bisschen steif geworden, das ich sofort beheben wollte. Ich musste mich reinhängen, um am Ball zu bleiben, auch wenn ich bisher immer einer der besten hier war, sehr zum Hass von Lydia. Einem blonden Mädchen, welches in ihrer Freizeit wohl Barbie nachahmte und den Beliebtheitsstatus einer Highschool Cheerleaderin hatte.
Kurze Zeit später wurde es jedoch augenblicklich still und Disziplin hielt Einzug.
Die Balettlehrerin Mrs Jeffreys hatte den Raum betreten. Witzigerweise wusste bis heute keiner, wie sie im Vornamen hieß.
Sie musterte uns, zählte wohl nach, ob alle da waren, doch plötzlich kam ein Mädchen herein gerannt. Sie war zu spät.
Ich schluckte, denn ich wusste, was es hieß, wenn man hier zu spät kam. Einmal und nie wieder.
»Tut mir wahnsinnig leid! Ich hab verschlafen. Mein Wecker hat irgendwie nicht geklingelt und ich...«
»Das ist mir egal. Hier hat jeder pünktlich zu sein. Was glaubst du denn, wie das später im Job läuft? Kommst du da auch einfach so zu spät?« Die Lehrerin, die mich zuvor vom Krankenhaus abgeholt und beinahe nett zu mir gewesen war, war im Unterricht eine völlig andere Person.
»Natürlich nicht. Ich...«
»Geh mir aus den Augen. Ich will dich heute nicht mehr sehen und wenn das noch einmal vorkommt, dann muss ich mir was anderes überlegen, um klar zu stellen, dass wir hier nicht am Basar sind, wo jeder kommen und gehen kann, wann er will«, sprach sie kalt.
Das Mädchen war den Tränen nahe, umklammerte ihre rosafarbene Tasche und drehte sich um, um schnell aus dem Raum zu huschen.
Ich sah ihr mitleidig nach, doch viel Zeit gab uns Mrs Jeffreys nicht. Schon holte sie June nach vorne, damit sie die Fortschritte begutachten konnte, die sie im Training für die Hauptrolle gemacht hatte.
»Alle anderen: Wärmt euch weiter auf. Ihr werdet danach in kleinen Gruppen vor tanzen«, ordnete sie an und wir taten brav, was sie uns sagte. Keiner traute sich, heute noch etwas falsch zu machen.
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The Heartbeat Dance
JugendliteraturBlaue Flecken, eine blutende Nase und eine angebrochene Rippe. Das alles sind Souvenirs, die Silas von seinem ersten aufeinandertreffen mit einem geheimnisvollen Jungen mitnahm und dennoch kann Silas ihn nicht vergessen. Ein Tänzer und ein Schläger...