6 ~ Lügen oder nicht?

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Langsam bewegten sich meine Beine rückwärts. Wahrscheinlich arbeitete da irgendwo tief in mir mein Verstand, den dieser Fremder noch nicht aufgeweicht hatte mit seinem Lächeln und seinen Augen.
Plötzlich schnellte jedoch die Hand des Jungen hervor und hielt mich fest. Wieder kroch die Panik in mir hoch. Ich blickte ihn an und zog an meinem Arm, doch der Junge ließ nicht los, sah jedoch auch nicht so aus als würde er mir etwas tun wollen. Seine blauen Augen strahlten noch immer vollkommene Ruhe aus. Wie ein See. Friedlich in der Sonne glitzernd. Bloß war hier keine Sonne. Nur grelles Licht, das ab und an wie Blitze über unseren Köpfen hinweg flackerte und mich nervös machte.

»Lass mich los«, brachte ich heraus und war mir sicher, dass mein Gegenüber kein Wort verstanden hatte. Ich sah, wie die Augen zu meinen Lippen wanderten, als ich sprach und er schien mich wohl doch verstanden zu haben, denn er schüttelte den Kopf. 
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht verschrecken. Ich... wollte fragen, wie du heißt«, sagte er so gelassen, dass ich nicht anders konnte, als ihn einfach so anzustarren. Da stand dieser Idiot einfach so vor mir, wollte wissen, wie ich verdammt nochmal hieß und das nach dem er mit seinen Freunden mir einen Krankenhausaufenthalt spendiert hatten.
»Ist doch egal. Geh zu deinen Freunden und lass mich.«
Offenbar konnte ich wieder klar denken und kapierte, dass ich nicht nett sein musste, zu diesem Vollidioten.
Jedoch machte sein trauriger Blick mein Hirn sofort wieder zu Matsch.
»Ich kann dich verstehen. Ich sollte wirklich gehen. Du hast allen Grund dazu, mich zu hassen und ich kein Recht darauf, deinen Namen zu wissen.«
Er senkte den Blick, trat einen Schritt zurück und irgendwas in mir wollte, dass er blieb. Mein Mund blieb jedoch verschlossen.
Noch einmal sah er erwartungsvoll zu mir, doch als nichts kam, entfernte er sich langsam.
Wie zur Salzsäule erstarrt blickte ich ihm nach, sah zu, wie immer mehr Leute den Blick auf den Unbekannten verhinderten und ihn die Menge schließlich komplett verschluckte.

»Oh, wer war denn das? Sah gut aus«, riss June mich zurück in die Realität. Sie drückte mir einen Pappbecher in die Hand mit einem dunkelroten Inhalt. Es sah aus, wie Johannisbeersaft, doch ich wusste, dass es höchst wahrscheinlich keiner war. Immerhin befanden wir uns auf einer Party.
Um die Frage meiner besten Freundin zu beantworten zuckte ich nur mit den Schultern.
»Ist egal.«
June sah mich von der Seite an, legte den Kopf schief und tat so, als würde sie überlegen.
»Nope, ist es nicht. Ich will das wissen, mein Lieber.« Sie ließ einfach nicht locker und auch wenn ich sie liebte, ging sie mir manchmal ganz schön auf den Geist.
»June, lass es doch. Ich will darüber jetzt nicht reden.« Ich rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf, um meine Aussage zu untermauern.
»Oh verstehe. Es ist ein Exfreund, aber Silas, du weißt doch, dass man durchaus nochmal mit seinem Exfreund zusammen kommen kann. Überhaupt wenn er so gut aussieht«, sprach sie grinsend, stieß mich sanft mit ihrem Ellenbogen an und wackelte mit den Augenbrauen.
Ich seufzte nur und ließ sie in dem Glauben. Dann gab sie wenigstens Ruhe und ich musste nicht weiter darüber reden. Den Typen sollte ich schnellstmöglich aus meinem Kopf verbannen und mich nicht mehr mit ihm beschäftigen. Er war es nicht wert. Zuerst schlug er mich zusammen und tat dann so, als wäre er ein liebenswürdiger Hund, der keinem was zu leide tun würde. Ich fiel da nicht drauf rein! Ganz sicher nicht.
Trotzig kippte ich den Drink hinunter, spürte, wie der Alkohol in meiner Kehle brannte und ließ mich dann von June auf die Tanzfläche ziehen, wo wir wild zur Musik herum sprangen. Das war anderes tanzen. Eine willkommene Abwechslung zum disziplinierten Ballett.

Irgendwann wurde es mir aber zu stickig und ich ging durch die dicke Brandschutztür nach draußen. Die Nacht fühlte sich kühl und angenehm an und ich schloss meine Augen, als ich mich an das kalte Gemäuer lehnte und die, vergleichsweise, Stille genoss.
Plötzlich ertönten Stimmen. Klasse, ich war also nicht alleine hier draußen. Meine Augen suchten die Gegend ab, bis sie etwas weiter entfernt eine Gruppe von Jungs sichteten. Diese unterhielt sich leise, lachte nur ab und zu lauter auf und ich erkannte ihn wieder. Auch wenn er mit dem Rücken zu mir stand registrierte ich ihn sofort. Den Jungen, den ich schnellstmöglich wieder vergessen wollte, weil es mir Angst machte, was er in mir auslöste.
Er tuschelte mit den angeblich bösen Freunden und da wurde mir klar, dass er gelogen hatte. Er wollte es sich bloß nicht eingestehen, dass er ein riesiges Arschloch war, welches einfach so irgendwelche unschuldigen Leute zusammen schlug und sie dann liegen ließ.
Ein Stich fuhr durch mich hindurch. Ich hatte wohl wirklich geglaubt, dass dieser Junge die Wahrheit sprach. Dass er es wirklich ehrlich meinte, wenn er sich entschuldigte. Dass die Reue in seinem Blick nicht gespielt war.
Stattdessen stand er hier, legte lachend den Kopf in den Nacken und wurde plötzlich ins Gesicht geschlagen.
Irritiert riss ich die Augen auf und hätte beinahe einen Laut von mir gegeben, der mich verraten und wahrscheinlich in eine ungemütliche, nicht ganz unbekannte Situation gebracht hätte.
»Was lachst du mich aus?«, zischte ein größerer Junge. Sein Kopf war kahl geschoren und er trug einige Lippenpiercings, die im Licht der Laterne bedrohlich schimmerten. Nichts gehen Piercings, aber im Zusammenhang mit diesem Jungen wirkten sie unheimlich.
Meine Bekanntschaft hielt sich den Mund. Er war einen Schritt zurück getreten, so dass ich nun sein Seitenprofil sehen konnte. Er schwieg, ließ den Hagel aus Flüchen und Machtgehabe über sich ergehen und plötzlich tat es mir leid, dass ich ihm nicht geglaubt hatte. Seine Freunde waren wohl in der Tat gewalttätig, aber warum ließ er das zu? Er könnte sie doch einfach in den Wind schießen und ein netter Junge werden. Einer, mit dem ich gerne zu tun hätte.
»Dexter, lass das«, sagte er überraschend ruhig und kassierte dafür den nächsten Schlag ins Gesicht.
Ich hatte keine Ahnung, was das Gespräch so eskalieren ließ, aber ich sollte schnell hier weg.
War ich dann besser als er? War ich dann besser, wenn ich genau jetzt davon gehe obwohl ich genau gesehen hatte, wie sie ihm weh taten?
Den bitteren Geschmack von Angst ignorierend trat ich auf die Gruppe zu, wohl wissend, dass ich wohl lebensmüde war.

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