Prolog

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Noah

Da steht sie, am anderen Ende des Raumes, vielleicht vier Meter von mir entfernt, und doch ist ihr Blick so intensiv, dass die Distanz zwischen uns fast verschwindet. Sie ist wie ein Geist – eine verblasste Erinnerung, von der man für die längste Zeit fast überzeugt war, man hätte sie sich vielleicht doch nur ausgedacht. Für einen Moment lang denke ich, es ist vielleicht auch so, schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ich ihr Gesicht in der Menge sehe, weil ich es in dem einer Anderen sehen will. Aber selbst nachdem ich blinzele, ist sie immer noch da. Sie ist es wirklich.

Es ist Ellie, live und in Farbe. Hier. Jetzt. Sie sieht anders aus und doch genau gleich. Anders, weil ihre Haut gebräunter, ihr Haar länger, ihr Gesicht das kleinste bisschen trauriger ist. Gleich, weil sie immer noch, auch wenn ich es nicht wahrhaben will, meine Ellie ist, genau so, wie ich sie das letzte Mal gesehen habe. Vor 152 Tagen. 153, wenn man genau sein will. Das heißt, mindestens ein Tag zu wenig. Ich habe es ausgerechnet, mehr als einmal. Ich bin mir sicher.

Ich löse mich aus dem Kuss und reiße mich los, will zu ihr rennen, will sie fragen, was sie hier macht. Will ihr sagen, dass ich sie vermisst habe, die ganzen 153 Tage lang. Vielleicht kann ich mir sogar einreden, dass die ganzen Wochen, alle 22 davon, nur ein schlechter Traum waren. Für sie würde ich es tun.

Aber dann blinzele ich noch einmal und im nächsten Moment ist sie weg.

"Sorry, ich muss...-" Ich entschuldige mich, ohne auf eine Antwort zu warten. Ellie ist zurück. Ich weiß, dass ich es mir diesmal nicht nur eingebildet habe. Sie ist wirklich zurück. 153 Tage lang habe ich darauf gewartet, auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte. "Ellie!" Ich drücke mich durch die Menschenmenge und rempele dabei ein vertrautes Gesicht an. "Ey, Jona, hast du-"

"David gesehen?", er runzelt die Stirn, "Ich dachte, der war grad bei dir."

"Ellie", korrigiere ich ihn, ohne auf das einzugehen, was er gerade gesagt hat. Auf der Stelle ändert sich sein Gesichtsausdruck.

"Oh." Wenn er vor fünf Sekunden noch deutlich angetrunken geklungen hat, ist seine Stimme jetzt nüchtern. "David hat es dir noch nicht gesagt, oder?" Er kämpft gegen die Musik im Hintergrund an.

"Hat mir was gesagt?" Ich muss jetzt schreien, damit er mich hört. Jona verzieht das Gesicht und zuckt mit den Schultern. Mein Herzschlag wird schneller und ich stoße ihn an.

"Jona!", rufe ich lauter. "Hat mir was gesagt?" Aber Jona hört mir nicht mehr zu.  

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt