1 - Vermissen

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Noah

"Ey, N, du kommst heute, oder?" Jona legt David eine Hand um die Schulter und sieht mich fordernd an. Die beiden verschmelzen zu einer Wand direkt vor mir – einer Wand mit vier Augen, die nur auf meine Antwort warten. Angelheart, ironischerweise, oder zumindest der Teil, der von Davids Band noch übrig geblieben ist. Selbst die beiden machen schon Scherze darüber.

Ich ignoriere das N. Jona weiß es nicht besser, aber David vermutlich schon. Es gab nur eine Person, bei der sich dieser Name richtig angehört hat. Aber diese Person ist mittlerweile Persona Non Grata, aus dem kollektiven Gedächtnis gestrichen. Wir reden nicht darüber, das wissen sie beide, ohne dass ich es je hatte sagen müssen. N schmeckt, als hätte ich eine Handvoll Salz in den Mund genommen. Ekelhaft. Ich würde mich am liebsten hier und jetzt betrinken.

"Mal gucken", antworte ich und Jona verdreht die Augen.

"Komm schon", bettelt er und streckt seine freie Hand nach mir aus. Ich weiche ihm gerade noch aus. Wieso macht er das? Wahrscheinlich wäre ich sogar hingegangen, aber er macht es mir nicht leicht.

"Ja, komm schon, No." Von hinten hat sich eine weitere Person angeschlichen, der es jetzt gelingt, einen Arm um mich zu legen. Ich seufze erleichtert. Maya. Sie ist Jonas Mitbewohnerin – keine Ahnung, warum sie freiwillig mit ihm zusammenwohnt – und ziemlich okay. Wenn David und Jona zusammen eine ihrer Partys schmeißen, ist sie eigentlich immer dabei. Ich habe die Theorie, dass sie auf David steht. David streitet das natürlich ab, aber... er ist ziemlich gut darin, Dinge zu übersehen, die er nicht sehen möchte.

"Da hast du's." David wirft mir ein halbes Lächeln zu. "Jetzt kannst du gar nicht mehr Nein sagen."

"Er hat recht." Maya knufft mir in die Seite. "Kannst du nein zu diesem Gesicht sagen?" Sie wendet sich in ihrer Umarmung zu mir um und macht einen Schmollmund, öffnet ihre ohnehin schon großen Augen ein Stück weiter, sodass sie wie riesige, blaue Murmeln aussehen und schaut mich unschuldig an. Ich kann ein Lachen nicht unterdrücken.

"Nein, kann ich nicht." Ich ergebe mich. "Na gut." Die Jungs grölen und ich verdrehe die Augen.

"Danke", flüstert Maya an meinem Ohr und lässt mich los, um auf David zuzurennen und ihm eine Hand um die Hüfte zu legen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie ihm dabei eine Hand in die Jeanstasche an seinem Hintern schiebt. "Also Jungs, wo, wann? Soll ich noch was erledigen? Soll ich für... die richtige Stimmung sorgen?" Sie wackelt mit den Augenbrauen.

David geht nicht darauf ein, wofür ich aus irgendeinem Grund dankbar bin. Ich mag Maya, aber sie ist manchmal ein bisschen... viel.

"Um zehn bei mir", antwortet Jona und kann sich nicht davon abhalten, Maya für den Bruchteil einer Sekunde in den Ausschnitt zu glotzen. Jungs denken echt, sie wären subtil.

"Okay." Ich höre ihnen schon nicht mehr zu. Ich habe mein Handy aus der Tasche gezogen und schon angefangen, zu tippen. Sie macht sich schon wieder an ihn ran, schicke ich Sof. Die Arme muss sich leider im Minutentakt jedes winzige Detail meines Lebens anhören, ob sie will oder nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ich kann gar nicht richtig denken ohne sie. Sof ist die fehlende Gehirnzelle zu der, die in meinem Kopf noch übrig ist. Ich vermisse sie so krass. Ohne Sofia, meine beste Freundin und ehemalige Kollegin damals im Vogelnest, dem Café ihrer Mutter, macht das Unileben nicht mal halb so viel Spaß. Wir hatten uns immer vorgenommen, zusammen zur Uni zu gehen – vielleicht, weil wir zu viele unrealistische amerikanische Teeniefilme konsumiert haben – aber dann hat sie sich im letzten Moment doch noch dazu entschieden, ein Semester abzuwarten.

"Es ist ein Semester, Noah", hat sie gesagt und mich ganz fest an sie gedrückt, "Das ist quasi nix. Wir schaffen das." Dabei hat sie für meinen Geschmack ein kleines bisschen zu sehr wie Ellie geklungen. Ellie. Ich beiße mir auf die Zunge, als hätte ich mich verbrannt. Ellie, meine Ex, deren Namen ich eigentlich nicht mehr erwähnen – nicht mal mehr denken – wollte. Ellie, Davids ältere Schwester. Vielleicht tut es irgendwann weniger weh, wenn ich mich an den Klang ihres Namens gewöhne. Expositionstherapie, quasi. Ellie, Ellie, Ellie. Nein, nicht jetzt. Glücklicherweise reißt mich die Nachricht von Sofia wieder aus meinen Gedanken.

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt