24 - Alte Flammen

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Ellie

"Was zum Teufel machst du hier?"

Ich löse mich aus ihrer Umarmung, als ich endlich wieder volle Kontrolle über meinen Körper erlange. Jetzt erst fällt mir der große, türkisfarbene Koffer auf, der hinter ihr im Flur steht.

"Ich wollte dich besuchen!", sagt sie und schmollt, als wäre es die offensichtliche Antwort. Ihre großen Augen lassen mein Gesicht nicht los. "Ich hab die Adresse von deinen Eltern." Sie zuckt mit den Schultern.

"Du warst bei meinen Eltern?" Langsam sickern ihre Worte zu mir durch und ich glaube, ich habe mich verhört. Es reicht schon, dass Angelina hier ist - hier, wo sie niemals hätte sein sollen. Hier, in dieser Timeline, wo ich sie doch explizit in einem anderen Leben zurückgelassen habe. Dass sie jetzt auch noch bei meinen Eltern war, ist das i-Tüpfelchen.

"Chill, El." Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange. "Ich hab mich da nicht... offiziell vorgestellt, oder so. Sie haben mich sogar zum Essen eingeladen, aber ich habe natürlich abgelehnt. Oh, und sie haben gefragt, ob ich 'eine Freundin von Ina' bin, ist das so ein Codewort für Lesbe?" Sie kichert.

"Ähm", antworte ich wenig geistreich. Angelina war bei meinen Eltern. Angelina ist hier. Angelina ist hier! Ich kann es immer noch nicht glauben. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.

"Ich dachte, ich hätte es klar gemacht, dass ich nichts mehr mit dir zutun haben möchte", bringe ich schließlich heraus. Angelina lächelt noch immer.

"Ähm, Süße, du hast meine Anrufe nicht beantwortet." Sie räuspert sich. "Und meine SMS, wo wir schonmal dabei sind. Hättest du die nämlich gelesen, wüsstest du, dass ich bei dir vorbeischauen wollte." Sie wirft sich ihr langes Haar in einem Schwung über die Schulter. "Und zum letzten Punkt - es ist nicht das erste Mal, dass du so tust, als wärst du schwer zu haben." Jetzt wird ihr Lächeln zu einem Grinsen. Sie streckt einen Finger nach mir aus, schlingt ihn durch die Lasche an meinem Hosenbund. "Es hat dir sonst sogar gefallen", flüstert sie fast schon und zieht mich näher zu ihr.

Und da ist es: dieses Prickeln. Das, was mich vor fast fünf Monaten, als wir uns das erste Mal gesehen haben, zu ihr angezogen hat. Ihr unantastbares Selbstbewusstsein, die Art, wie sie sich bewegt, ohne im Geringsten darüber nachzudenken, was andere Leute von ihr halten könnten. Beinahe eine Unverschämtheit, mit der sie ihren Kopf ein bisschen zu hoch trägt, ein bisschen zu taktlos ist, ein bisschen zu frech und ein bisschen zu laut. Als ich sie Ende September fast über den Haufen gerannt hatte, weil ich in Gedanken ganz woanders - oder: bei jemand anderem - gewesen war, hatte sie nicht mal mit der Wimper gezuckt. Nicht über den verschütteten Kaffee, der ihr weißes Shirt klischeehaft braun gesprenkelt hatte, nicht über ihre ruinierten roten Wildlederschuhe.

"Ist das dein Move?", hatte sie stattdessen gefragt und mich damit komplett überrumpelt, und, ohne auf meine Antwort zu warten: "Wenn ja, ist das nicht mal ineffektiv." Dazu dieses verdammt strahlende Lächeln, zu dem man nur schlecht nein sagen konnte.

Angelina hatte mir eine Gelegenheit geboten, auf die ich nur gewartet hatte: Eine Chance, nicht mehr an N denken zu müssen. Wir hatten viele Wochen des letzten Jahres in ihrem kleinen Apartment, das sie sich mit zwei Mitbewohnern teilte, verbracht, hatten Museen besucht und Städtetrips gemacht, wenn ich nicht gerade einen Workshop besuchte. Wir hatten lange geschlafen und waren spät ins Bett gegangen, hatten jeden Tag ausgekostet, als wären wir die einzigen Menschen in einem anderen Universum, das nichts mit unserer Vergangenheit oder Zukunft zu tun hatte.

Und jetzt das. Die Realisation sickert durch meinen Körper und mechanisch löse ich ihren Finger von meinem Hosenbund.

"Ich...i-ich", stottere ich, "Ich kann nicht, Angelina." Bulldozer, hatte sie mich genannt, nachdem ich ihr das mit Noah erzählt hatte. Warum ich es ihr überhaupt erzählt hatte, weiß ich selbst nicht so genau - vielleicht, weil die Wunde noch zu frisch war, vielleicht, weil sie die einzige Person gewesen war, der ich meine Version der Geschichte erzählen hatte können. Vielleicht, weil sich die Zeit mit ihr ein bisschen zu gut angefühlt hatte.

"Hast du etwa eine Freundin?", fragt sie jetzt und legt den Kopf schief. "Bist du wieder mit deiner Ex zusammen?"

Ich schüttele den Kopf, aber bringe kein Wort heraus. Zumindest noch nicht, will ich sagen, aber die Worte bleiben mir in der Kehle stecken.

"Du hast gesagt, du liebst mich." Ihre Worte treffen mich so unerwartet, dass ich mich fast daran verbrenne.

"Ich habe...-"

"Du hast gesagt, dass du mich liebst, Ellie."

Fast taumele ich einen Schritt nach hinten. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie liebe. Ich halte mich am Türrahmen fest. Ich weiß, was ich jetzt sagen will. Was ich schon so oft zu N gesagt habe, in der Hoffnung, alles ungeschehen zu machen; was sie nicht ein einziges Mal hat hören wollen. Die magischen vier Worte, die mehr Rauch sind als Substanz, weil sie nie so ernst klingen, wie sie es gemeint sind.

Die letzten Wochen habe ich so getan, als wäre das mit Angelina nur ein Fiebertraum gewesen. Eine böse Erinnerung, die ich ganz hinten in mein Gedächtnis schieben konnte, bis ihre Farben verblassen. Aber jetzt, wo Angelina hier ist - in Fleisch und Blut, lebendig, genauso, wie ich sie zum letzten Mal gesehen habe - kann ich sie nicht mehr ignorieren.

Und noch viel wichtiger: Ich muss genau das tun, was ich die letzten Tage, Wochen, Monate vermieden habe. Ich muss ehrlich zu ihr sein.

Ich schlucke.

"Ich liebe dich nicht, Angelina." Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Die Worte warten darauf, von mir ausgesprochen zu werden, aber diesmal schaffe ich es tatsächlich, mich zu besinnen. "Und ich möchte dich nicht hier haben."

Noah

"Ich bin stolz auf dich." Als ich Mayas Zimmer verlasse, fällt mir Sof um den Arm und drückt mich so fest an sie, wie es ihr Kugelbauch zulässt.

"Ich bin müde", antworte ich schwach und entziehe mich ihrer Umarmung. Es ist nicht mal gelogen: Das Gespräch mit Maya - mein Abservieren, wenn wir mal ehrlich sind - hat mich als leere Hülle meiner Selbst zurückgelassen. Am liebsten würde ich mich zuhause auf meinem Bett zusammenrollen, Pizza essen und für eine Woche mein Wohnheimszimmer nicht verlassen. Und bloß keinen menschlichen Kontakt haben, zumindest für die nächsten... Jahre.

Als hätte Sofia meine Gedanken gelesen, fragt sie: "Wollen wir Pizza bestellen?"

Ich nicke dankbar und hake mich bei ihr ein. Schweigend laufen wir zur Bushaltestelle, setzen uns wie selbstverständlich nebeneinander, als die 63 ankommt und steigen wortlos wieder aus. Es ist eine angenehme Stille, eine "Ich weiß, dass wir gerade beide Zeit für uns brauchen"-Stille, und ich koste jede Sekunde davon aus. Es fühlt sich so vertraut an, dass ich am liebsten vor Freude weinen würde. Als wir mit dem Aufzug im siebten Stock ankommen, räuspert sich Sof schließlich.

"Also, ähm." Sie schaut mich mit großen, braunen Augen an. "Ich weiß, du fragst dich, wieso ich hier bin."

"Du musst nicht-", fange ich an, aber sie schüttelt den Kopf. "Schon okay, Noah. Ich weiß, dass ich dir nichts erklären muss. Aber ich will." Sie wartet noch, bis ich die Tür aufgeschlossen und hinter uns zugezogen habe, bis sie weiterspricht.

"Ollie und ich haben uns gestritten", sagt sie dann und setzt sich auf mein Schrankbett. "Es war... nicht der erste Streit und sicher nicht der letzte, aber ich musste einfach mal raus. Das mit dem Baby, das ist einfach...", sie zieht ihre Knie an ihren Körper und vergräbt ihr Gesicht dazwischen, kugelt sich zusammen wie eine Kellerassel. Als sie mich wieder ansieht, ist ihre Nase ganz verschnupft. "Es ist echt verdammt viel auf einmal. Und Ollie macht es nicht besser, weil er echt.. alles besser wissen muss." Sie zieht ihre Nase hoch und schnieft, aber sieht dabei mehr frustriert als traurig aus und so trotzig, dass ich fast schon lachen muss. "Den ganzen Tag schaut er irgendwelche YouTube Videos und Baby-Dokus. Ich glaube, mittlerweile hat er bessere Kenntnisse über die weibliche Anatomie als mein Gynäkologe!" Sie schnauft.

"Weiß er, dass du hier bist?", frage ich schließlich und Sof verdreht die Augen.

"Natürlich weiß er, dass ich hier bin." Sie lacht, immer noch verschnieft, immer noch frustriert. "Wenn ich ihm das nicht erzählt hätte, hättest du sicher schon einen Anruf von der Polizei mit meinem Vermisstenaufruf bekommen. Ich hab ihm gesagt, dass ich mal ein paar Tage Abstand brauche, einfach mal durchatmen." Sie schluckt. "Und natürlich meine beste Freundin besuchen."

Bei ihren letzten Worten blüht mein Herz auf wie eine Blume. Ich greife nach ihrer Hand. "Ich glaube, es ist jetzt Zeit für Pizza", sage ich dann und zeitgleich lächeln wir uns an. 

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt