4 - Party

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Noah

Bis David und ich Gelegenheit dazu bekommen, miteinander zu reden, vergeht erstaunlich viel Zeit. Als hätte das Universum meine Gebete erhört – oh man, ich höre mich wirklich schon so an wie Sofia! – klingelt es nur wenige Momente später an der Tür und David lässt zwei Mädels, die ich vorher noch nie gesehen habe, ins Haus. Sie sind in Davids Anwesenheit ganz kichrig und, ihrem Atem nach zu urteilen, auch schon ziemlich angetrunken. Ich lotse sie ins Wohnzimmer, bevor sie sich weiter David an den Hals werfen können, aber er ist eh zu beschäftigt, die nächsten Gäste zu begrüßen, um ihre Avancen bemerken zu können.

"Kommt man zu Partys nicht eigentlich zu spät?", frage ich Maya, die gerade einen Klumpen Vanilleeis in das große Bowleglas auf dem Sideboard fallen lässt. "Ich meine, ist das nicht sowas wie Party-Etikette?"

Maya zieht die Augenbrauen hoch und grinst. "Nicht, wenn man... Kontakte knüpfen will", sagt sie mit einem Seitenblick in Richtung Flur, in dem David immer noch den perfekten Türsteher spielt.

"Ihh." Ich verziehe das Gesicht und sehe dabei zu, wie das Vanilleeis langsam zu Eisschaum schmilzt. Kleine Erdbeerstückchen brechen die weiß-gelbe Oberfläche der Fruchtbowle. "Ist das gut?", frage ich, weil mich der Anblick ein bisschen an Eiterpusteln erinnert.

"Sehr gut", bestätigt Maya und pickt mit ihren Fingern eine Erdbeere aus dem Bowleglas. Jetzt bin ich es, die die Augenbrauen hochzieht: "Das ist nicht sehr hygienisch, das weißt du, oder?"

"Okay, Mama!" Maya steckt sich die Erdbeere in den Mund und grinst. "Keine Sorge, Davids Fans werden hiervon eh nichts trinken. Die wollen nicht, dass man weiß, dass sie lebendige Wesen sind, die essen und trinken." Ihre Stimme gewinnt an Schärfe. Ellie wäre nie so gemein. Es ist nur eine Millisekunde, in der der Gedanke in meinem Kopf aufblitzt und trotzdem trifft er mich, als hätte man mir in den Magen geboxt. Ellie. Ohne dass ich es gewollt hätte, ohne jeden wirklichen Kontext oder substanziellen Bezug hat sie es geschafft, mich aus der Bahn zu werfen. Und das sogar ganz ohne ihre Präsenz.

"Alles okay?" Maya hat bemerkt, dass meine Stimmung umgeschwungen ist, und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich streiche sie weg, vielleicht etwas zu forsch, denn ihr Gesicht überzieht für einen winzigen Moment so etwas wie Verletztheit. Ich schüttele mich. "Ja, sorry. Ich glaube, ich muss nur kurz an die frische Luft."

Tatsächlich ist die Luft im Wohnzimmer des Hauses mit zunehmender Anzahl der hereinströmenden Partygäste ziemlich stickig geworden. Es ist eine sexy Stickigkeit, eine verheißungsvolle Stickigkeit, wenn es so etwas gibt. Eine Kostprobe einer Partynacht, in der viel getanzt, getrunken, geflirtet und laut beim Karaoke gesungen wird. Trotzdem wird mir das alles gerade zu viel. Ich verziehe mein Gesicht zu einem halbherzigen Lächeln und dränge mich durch die Menge in Richtung Terrasse, ohne Maya aus den Augen zu lassen. Sie erwidert mein Lächeln, bevor sie sich wieder der Bowle zuwendet.

Ich stoße die Glastür zur Terrasse auf und atme tief ein. Kühle Abendluft füllt meine Lungen und sofort fühle ich mich, als seien mir zehn metaphorische Steine vom Herzen gefallen. Die Stimmen in meinem Rücken und Avril Lavigne, wie sie What the Hell aus Mayas Boxen grölt, sind nur noch gedämpft und bilden ein angenehmes Hintergrundrauschen für meine Gedanken.

"Scheiße, Noah." Ich stehe vielleicht eine Minute draußen, als David mir plötzlich ganz nah ist. Ich spüre seine Wärme, bevor ich ihn hören kann. Ich drehe mich nicht zu ihm um, starre nur weiter in die Dunkelheit. Irgendwo dort draußen im Garten steht eine Schaukel. Wie gerne würde ich jetzt schaukeln.

"Dir muss doch kalt sein, oder?" Unwillkürlich habe ich meine Arme verschränkt, aber ich schüttele den Kopf. "Alles gut", antworte ich ihm schlicht, aber im nächsten Moment hat er mir schon seine Sweatjacke über die Schultern gelegt. "Danke", sage ich, obwohl ich eigentlich lieber die Augen verdreht hätte.

"Kein Problem, N."

"Nicht du auch noch!" Endlich drehe ich mich zu ihm um.

"Was?", fragt er unschuldig. Ich runzle die Stirn. "N?", frage ich vorwurfsvoll, "Du weißt ganz genau, dass das... wer mich so genannt hat."

Für einen Moment bleibt er still. "Oh", sagt er dann und sieht dabei ehrlich überrascht aus. "Das war ein Versehen, N. Noah. Wirklich, ich hätte es wahrscheinlich wissen sollen, aber ich hab nicht mehr dran gedacht, dass Ellie-"

"Schon okay." Ellie, Ellie, Ellie. Ich würde Geld dafür bezahlen, ihren Namen nicht mehr hören zu müssen. "Alles gut", wiederhole ich, mehr zu mir selbst als zu David. Vielleicht entspricht es irgendwann, wenn ich es oft genug sage, der Wahrheit.

"Also, du wolltest reden?", bricht David schließlich die Stille. Ich ziehe mir seine Jacke weiter über die Schultern. Langsam fange ich tatsächlich an, zu frösteln.

"Ähm, ja. Das." Ich räuspere mich. "Es geht weniger um mich, als um Maya."

"Irgendwie wusste ich, dass du das sagst." Zu meiner Verwunderung fängt David an, zu grinsen. Sollte es etwa tatsächlich so sein, dass David so etwas wie self-awareness besitzt?

"Dir ist es aufgefallen", sage ich verwundert. Wow.

"Natürlich." Er sieht zufrieden aus. "Ich bin ja nicht komplett doof, Noah." – "So hab ich das gar nicht gemeint." Ich suche sein Gesicht nach einer Reaktion ab. Aber vergeblich – der Junge sieht immer noch tiefenentspannt aus.

"Das ist wirklich nicht cool von dir, David." Ich beiße die Zähne zusammen. Jetzt schnellen seine Augenbrauen in die Höhe. "Nicht cool von mir?", seine Stimme springt eine Oktave, "Ich mach doch gar nichts, Noah!"

"Ja, genau das." – "Warte, worüber genau reden wir jetzt?"

"Darüber, dass Maya ganz offensichtlich auf dich steht und du sie ganz offensichtlich links liegen lässt."

"Warte, es stört dich, dass ich sie links liegen lasse?"

Ich brauche einen Moment, um seine Frage zu beantworten. Vielleicht hat mir die Dezemberluft tatsächlich schon meine letzten Gehirnzellen eingefroren. "Natürlich stört mich das", antworte ich schließlich. "Ich meine... es ist unangenehm. So als Zuschauer, meine ich. Vor allem, wenn man bedenkt, dass wir mal..." Ich lasse meinen Satz im Sand verlaufen und treffe auf Davids Blick. "Warte, was hast du denn gedacht?", frage ich ihn dann.

David räuspert sich. "Noah, ich..." Oh nein, oh nein, oh nein. "Ich dachte, du weißt, dass mir das mit Maya unangenehm ist. Mindestens genauso unangenehm wie dir. Ich meine, ich mag Maya. Nur nicht... so", fährt er fort. Bitte, halt einfach den Mund. Nichts an diesem Gespräch macht die Situation auch nur um einen einzigen Funken besser. "Noah, der Grund dafür, dass ich Maya links liegen lasse, ist, dass ich jemanden anderen mag." Oh. Nein. Es ist die gleiche Situation wie vor etwas mehr als einem Jahr. Ein Déjà Vu der unangenehmsten Art. Ich schlucke. "Und zwar dich." Bitte, lass mich gerade ein schlimmes Hörproblem haben. Das kann gerade nicht wirklich passieren.

David tritt einen Schritt auf mich zu und legt mir einen Arm um meine Schulter. Alles riecht nach ihm. Seine Jacke, sein Haar, sein immer näher kommendes Gesicht. "Dich, Noah", wiederholt er sanft, seine Hand an meinem Kinn. Ich muss daran denken, wie er mir letztes Jahr nach unserer Trennung seine Liebe gestanden hat. Damals hatte ich es gerade noch geschafft, ihn davon abzuhalten, mich zu küssen, weil ich damit rausgeplatzt war, dass ich seine Schwester liebte. Ellie. Ihr Name brennt in meiner Brust, so als hätte ich mich an dem Klang verbrannt. Jetzt ist sie nicht da. Nichts von ihr.

"David", sage ich schwach. Es ist, als sei jegliche Luft aus meinen Lungen gewichen. Meine Stimme ist kaum lauter als ein Windhauch. "Noah", lächelt er und im nächsten Moment berühren seine Lippen meine. Der Kuss ist warm und vertraut und für einen Moment bin ich fast versucht, mich ihm hinzugeben. Aber im nächsten Moment besinne ich mich und mir wird wieder klar, wo ich bin und was ich da eigentlich mache.

"Scheiße." Ich ziehe meinen Kopf zurück und will mich abwenden, weg von der Terrasse, weg von David. Aber als ich mich umdrehe, versteinert mein ganzer Körper, als hätte mich jemand mit einem Eimer kaltem Wasser übergossen. Oh. Nein. Hinter der Glasscheibe, nur einen Meter von mir entfernt, steht Maya. Und dem Ausdruck auf ihrem Gesicht nach zu urteilen hat sie alles gesehen. 

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt