2 - Heimkehr

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Ellie

Als ich den ersten Schritt aus dem Bus trete, strömt mir ein vertrauter Geruch nach Harz und Weihnachten in die Nase. Es ist eine ganze besondere Mischung – der einzigartige Geruch dieser Stadt im Winter, der Duft von Keksen, die irgendjemand in der Nachbarschaft gebacken haben muss, vermischt mit der restlichen Feuchtigkeit der umliegenden Bäume. Ich habe die Stadt im Sommer verlassen, aber erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr sie mir eigentlich gefehlt hat. Wie sehr mir das alles hier gefehlt hat.

In den letzten fünf Monaten habe ich zwar oft darüber nachgedacht, wie es wird, zurückzukommen, aber hatte nie die Zeit dafür, dem Gedanken wirklich lange nachzuhängen. Zurück in meine Heimatstadt, zurück zu meinen Freunden, zurück zu... Noah. Noah Waller. Mittlerweile ist der Name holprig in meinem Mund, als hätte ich verlernt, ihn auszusprechen. Ich kann nicht mal daran denken, wie es wird, sie wiederzusehen. Will es nicht, oder vielleicht schon. Ich kann's nicht genau sagen.

Ich fluche, als sich eins der Räder meines großen Rollkoffers im Kopfsteinpflaster verhakt. "Scheiße!"

"Kann ich Ihnen helfen–" Ich schaue auf, als mich eine Hand an der Schulter berührt, direkt in das rundliche Gesicht einer Frau mittleren Alters. Die krausen, blonden Haare stehen ihr vom Kopf ab, als ständen sie unter Strom; ihre knollige Nase ist von der Kälte gerötet. "Oh." Als sie mich erkennt, weiten sich ihre blassblauen Augen kaum merklich.

"Conny." Endlich gelingt es mir, meinen Koffer aus der Spalte im Pflaster zu lösen. "Hey."

"Du bist zurück." Ihre Stimme ist immer noch warm, aber etwas distanzierter. Weniger hilfsbereit, jetzt wo sie erkannt hat, wer vor ihr steht. Conny Hernandez – Conny H, wie sie genannt werden will – ist die Besitzerin des Vogelnests und zufällig auch die Mutter von Noahs bester Freundin Sofia.

"Ich bin zurück", bestätige ich. Ich weiß schon ganz genau, dass diese Begegnung später an diesem Tag ganz oben auf der Klatsch-Liste von Sofia stehen wird. "Nicht offiziell", füge ich dann hinzu, in der Hoffnung, die Nachricht meiner freudigen Ankunft vielleicht noch um ein paar Stunden verschieben zu können, "Wenn Sie also..."

Conny räuspert sich. "Ellie", sagt sie dann und ich zucke unwillkürlich beim Klang meines Namens zusammen. Es ist fast so, als hätte ich die letzten fünf Monate nicht existiert; jetzt, wo sie meinen Namen sagt, wird dieser Moment real. Sie erinnert sich an mich. Natürlich tut sie das, es waren ja nur ein paar Monate. "Ellie", wiederholt Conny, "Weißt du eigentlich, was Noah... was sie die letzten Monate durchgemacht hat." Es ist keine Frage. Ich kann sie nicht ansehen. Ich will nicht mal daran denken, was sie damit meint, denn es ist nur eins der vielen Dinge, die ich in den letzten Monaten ganz tief in meinen Hinterkopf geschoben habe.

"Ich muss es ihr selbst erzählen", sage ich dann und schlucke. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Conny nickt. "Mach das." Wieder fühle ich ihre Hand an meiner Schulter. Dann ist sie weg, wahrscheinlich in Richtung Vogelnest, das nur ein paar Seitenstraßen vom örtlichen Busbahnhof entfernt liegt. Ich schaue auf, atme die kühle Dezemberluft ein und schüttele mich, als könnte ich damit die Begegnung ungeschehen machen.

***

Meine Eltern ahnen nichts von meinem Besuch. Wie sollten sie auch? Offiziell dürfte ich noch gar nicht hier sein. Offiziell steige ich erst in gut einer Woche in den Flieger nach Hause, und komme erst am Montag darauf mit dem Bus in dieser Stadt an. Ich bin zu früh, aber das hat einen Grund. Den sie noch früh genug erfahren werden.

"ELLIE!" Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, stürzen sich vier Körper auf mich und ich werde in eine Gruppenumarmung gezogen, die mir die Luft aus den Lungen drückt.

"Hey, Leute", antworte ich, sobald ich wieder atmen kann und schaue der Reihe nach in die Gesichter meiner Freunde. Da sind sie alle versammelt – mit roten Nasen und rosigen Wangen, dick eingepackt in farblich passende Schals und Mützen mit kleinen Puscheln obendrauf.

"Elisabeth Eluise Sichelman!" Bär ist der erste, der den Atem wiederfindet und mich an beiden Händen umherwirbelt. "Es war so langweilig ohne dich, Miststück!"

Ich grinse und lasse mich von dem Bärtigen zu einer Pirouette hinreißen. "So heiß' ich gar nicht, Tim", sage ich mit ein paar albernen Kieksern in der Stimmung, weil ich ganz aufgeregt bin, sie wiederzusehen. "Es war auch sehr langweilig ohne dich, mein Schatz."

"Ich hoffe, du hast uns viel zu erzählen." Nellys Stimme ist ernst, aber eine Sekunde später bricht ihr schönes Gesicht in ein breites Lachen aus, das eine Reihe großer, gerader Zähne offenbart. Ihr Afro, der unter der rosafarbenen Mütze hervorquellt, ist jetzt blond. "Ach, komm her!" Sie zieht mich nochmals an sich und ich lasse mich von ihr drücken.

"Sollte ich eifersüchtig sein?" Ich löse mich aus der Umarmung, als ich Iris Stimme höre und zwinkere der bestimmt 1,80m großen Asiatin zu. "Definitiv", grinse ich und umarme auch sie. Dafür, dass ihr Kleidungsstil für gewöhnlich der Exzentrischste der Gruppe ist, hält sie sich heute bedeckt – mit einem schwarzen Mantel, dazu farblich passender Mütze, Schal und Handschuhen. Einzig die Plateaustiefel mit pinkfarbener Sohle und die großen Kreolen, die auch als Armreifen durchgehen könnten, verraten sie.

"Leute." Ich schaue sie alle an und Erleichterung strömt warm in jede Faser meines Körpers. Bär, Nelly, Iri und Mo, der ein bisschen verlegen an der Seite steht, aber ebenfalls lächelt. "Ich bin so froh, euch wiederzusehen."

"Glühwein?", fragt Mo und reicht mir einen Becher, den er aus seiner Jackentasche gezogen hat. Ich nehme ihn und jetzt verteilt er auch Becher an die anderen. Das ist unser Ritual – den Tag vor Heiligabend zusammen zu verbringen und zu feiern. Ich hätte nicht gedacht, dass wir das auch dieses Jahr hinbekommen. Nach allem, was... ach egal.

"Also", fragt Bär, während uns Iri Glühwein aus der Thermoskanne einschenkt, die sie in ihrer Handtasche versteckt hat, "Was gibt's, Mausi? Du musst ja furchtbar beschäftigt gewesen sein, dass du in den letzten fünf Monaten nicht mal Zeit dafür hattest, mit den coolsten Menschen des Planeten zu skypen."

"Hab ich doch", antworte ich und nippe an meinem Glühwein. Er ist heiß und süß, genau richtig. "Ach, ihr meint euch?", sage ich dann gespielt überrascht und Bär verdreht die Augen. Dann werde ich ernst. "Nein, sorry, ich war nur... das ist eine lange Geschichte." Wo fange ich da überhaupt an?

"Hast du etwa..." Nelly schaut mich erwartungsvoll an.

"Hat sie nicht!", sagt Iri. "Sag mir bitte, dass das nichts mit einem Mädchen zu tun hat."

"Ja, El." Bär sieht ungewöhnlich ernst aus. "Sag uns bitte, dass das nichts mit einem Mädchen zu tun hat."

"Ey!" Jetzt bin ich fast schon beleidigt. Ich hebe entwaffnend meine Arme und verschütte dabei ein bisschen von dem heißen Glühwein. "Ich hab nicht... für wen haltet ihr mich überhaupt?"

"Oh, shit." Mo tauscht einen Blick mit den anderen.

"Was?", frage ich. Sie antworten nicht, aber fangen nach einem Moment simultan an, zu kichern. "WAS?", frage ich lauter.

"Es hat mit einem Mädchen zu tun", sagt Bär schließlich, als sei es eine Feststellung, keine Frage. Und dann: "El, was hast du angestellt?"

Wo fange ich da überhaupt an? 

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt