7 - Chance

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Noah

Es ist das erste Mal seit mehr als drei Monaten, dass ich wieder nach Hause fahre. Am Anfang des Semesters bin ich noch jedes Wochenende hin- und hergependelt, bis mir die Erinnerungen an Ellie – sie auf meinem Bett, sie, wie sie darauf wartet, dass ich mich fertig geschminkt habe, wir beide unten am Frühstückstisch – zu viel wurden. Jetzt, wo ich im Bus nach Hause sitze, fühlt es sich an, als hätte sich mein Herz die ganze Zeit danach gesehnt, wieder zurückzukehren.

Ein paar Mal im Monat telefoniere ich mit Dad und sehe Sof ja beinahe jeden Tag zumindest virtuell – trotzdem ist es etwas ganz anderes, sie jetzt endlich wieder in die Arme schließen zu können. Ich lehne mich gegen das Fenster, das von den Bewegungen des Busses unter meinem Ellbogen vibriert, und beobachte, wie vertraute Häuser an mir vorbeiziehen. Der Schnee der letzten Nacht ist nicht liegengeblieben; lediglich die Dächer sind noch mit einer dünnen Schicht Raureif überzogen, als hätte jemand Puderzucker darüber gesiebt.

Während wir uns dem Stadtzentrum annähern, denke ich an Ellie. Nur kurz, weil ich zwei Menschen sehe, die ihren Eltern ähnlich sehen. Und dann an David, dann an Maya, und unwillkürlich rutscht mir das Herz in meine Hose, als würde es plötzlich tausend Tonnen wiegen. Lass uns reden?, schreibe ich Maya, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. Ich könnte es verstehen, wenn sie mir aus dem Weg geht. Ich würde mir aus dem Weg gehen, wenn ich sie wäre.

Nächsten Sonntag bei David, kommt nur eine Minute später zurück. Ich schicke ihr ein "?". Prompt kommt die Antwort: Wir fangen ab 22:00 an. Die Jungs machen eine Silvesterparty. Dann können wir reden. Einen Moment lang bin ich zu perplex, um darauf etwas zu entgegnen. Eine Party ausgerechnet bei David? Auf der anderen Seite... wird sie David genauso ins Gesicht schauen müssen wie ich. Und da habe ich wahrscheinlich noch die bessere Karte von uns beiden gezogen. Okay, antworte ich ihr schließlich, bevor ich näher darüber nachdenken kann.

Ellie

Als wir in den Busbahnhof einfahren, sehe ich meine Eltern schon winken. Sie sehen aus wie einem IKEA-Katalog entsprungen– Dad hat meiner Mutter einen Arm um die Schulter gelegt, beide sind sie eingepackt in gerade geschnittene, graue Mäntel und farblich aufeinander abgestimmte Schals. Der Bus kommt zum stehen und ich hole meinen Rucksack aus der Ablage. Ich habe meinen Koffer bei Nelly und Iri gelassen, in deren Wohnung ich mich fürs Erste einquartiert habe, zumindest so lange, bis ich etwas Besseres gefunden habe.

Und dann ist es so weit. Die Bustüren öffnen sich und...

Da ist sie. Ein Mädchen im blauen Mantel, das in einer der vorderen Reihen sitzt, steht auf und steigt aus, ohne sich umzudrehen. Ich habe sie erkannt, noch bevor sie sich für den Bruchteil einer Sekunde umwendet, als hielte sie nach jemandem Ausschau. Noah. Ihr blondes Haar ist jetzt länger, es fällt ihr fast schon über die Schultern. Und da ist auch ihr Dad, Ben Waller. Er sieht gut aus, so als hätte er ein paar Kilo zugenommen, die seinem schmalen, sonnengebrannten Gesicht eine gesunde Fülle geben. Ben nimmt Noah in den Arm und sie verschwindet fast darin. Und obwohl sie lacht, obwohl sie scheinbar mit ihrem Vater herumalbert, sieht sie traurig aus.

Ich drücke mich tiefer in den Sitz und warte darauf, dass sie sich soweit entfernen, dass ich unbemerkt aussteigen kann. Natürlich will ich sie sehen. Aber nicht hier. Nicht jetzt. Nicht nach... Ich brauche Zeit. Bevor ich Noah wiedersehen kann, muss ich noch einige Dinge klären. Und das vielleicht Wichtigste: ich muss hundertprozentig sicher sein, dass sie mich auch wiedersehen möchte.

Ich höre ein Klopfen seitlich von mir und linse nach draußen. Meine Eltern stehen jetzt an meinem Busfenster, haben mich scheinbar trotz meiner kläglichen Versuche, mich zu verstecken, entdeckt. Ich zwinge mich zu einem breiten Lächeln und versuche, möglichst freudig überrascht auszusehen. Dann stehe ich endlich auf und laufe Richtung Fahrerkabine. Ich nehme mir möglichst viel Zeit, die Stufen des Busses herunterzuschlendern, und kann erst aufatmen, als ich Noah und Ben nirgendwo mehr entdecken kann.

"Ellie!", seufzt meine Mutter aufgeregt, als sie mich sieht und drückt mich an sich. "Du hast... ein Piercing." Wow, ich glaube, sie ist die erste, die etwas dazu sagt. Ich berühre unwillkürlich den schmalen, silbernen Ring, der meinen Nasenflügel verzieht. "Ja, ähm...", fange ich an und warte auf eine Predigt darüber, dass Löcher im Körper ja nicht so einfach zuwachsen und ein hohes Infektionsrisiko bieten, das hätte vermieden werden können. Aber stattdessen Stille. "Wir freuen uns einfach, dass du wieder da bist", sagt mein Vater schlicht und nimmt mich jetzt ebenfalls in die Arme.

"Ich freu mich auch", antworte ich wahrheitsgetreu. "Wo ist David?"

Meine Mutter verzieht ihr Gesicht. "Zu spät", sagt sie. Wie immer, muss sie nicht aussprechen. Ich hake mich bei ihr ein und wir laufen in Richtung Parkplatz, während ich ihnen halbherzig von meinen Praktika erzähle. Es ist nicht die ganze Wahrheit, es ist nicht einmal die halbe Wahrheit, aber gerade Wahrheit genug, als dass sie an jedem meiner Worte hängen.

"Das hört sich toll an, Ellie", sagt Dad, als ich fertig bin und öffnet meiner Mutter die Beifahrertür. Als sie schon im Auto sitzt, klopft er mir auf die Schulter. "Ich weiß, dass es schwer für dich war, deine ganzen Freunde hier zurückzulassen", sagt er dann, ernster als gewohnt. Da ist sie – seine ärztliche Autorität, eine Art innere Ruhe, die er ausstrahlt. Jetzt ist er nicht nur mein Vater, sondern Dr. Robert Sichelman, Facharzt für Allgemeinmedizin und weitergebildeter Psychotherapeut. Augenblicklich fühle ich mich besser. "Es war die richtige Entscheidung, Ellie." Und mit diesen Worten steigt er ins Auto ein und auch ich öffne die Tür zum Rücksitz, um meinen Eltern zu folgen. Es ist eigentlich Quatsch, dass wir überhaupt fahren – diese Stadt ist so klein, dass alles fußläufig zu erreichen ist –, trotzdem beruhigt es mich, wenigstens für ein paar Minuten noch schweigend aus dem Fenster starren zu können.

Da ist das schmiedeeiserne Tor, hinter dem sich die Einfahrt zum Haus meiner Eltern hinaufschlängelt. Dad fährt bis ganz vorne vors Haus, das sich erhaben und blütenweiß in die Höhe streckt. Wir steigen aus und noch bevor er seinen Haustürschlüssel zücken kann, öffnet sich die Tür von selbst.

"Ellie." – "David." Für einen Moment sagen wir gar nichts, schauen uns nur schweigend an. Ein Abwägen. All das, was vorher zwischen uns vorgefallen ist. Dann zieht er mich an sich und ich weiß, dass zwischen uns alles in Ordnung ist.

"Dav, du bist ja hübsch geworden!", sage ich überdreht und mustere ihn von Kopf bis Fuß. Er ist brauner als sonst, irgendwie sehniger und trägt seine sonst fast schulterlangen Haare kürzer. Es steht ihm.

"Und du bist alt geworden." Er erwidert mein Grinsen. "Ist das ein-", er keucht dramatisch, "ein Piercing?"

"Selbst gestochen", sage ich selbstbewusst, jedoch nicht so laut, dass unsere Eltern es mitbekommen können.

"Wer bist du?" Es ist eine scherzhafte Frage und trotzdem regt sich etwas in meinem Inneren. Ja, wer bin ich? Ehrlich gesagt bin ich mir da selbst nicht mehr so sicher. "Find's heraus, Dav", antworte ich ihm stattdessen mit einem Lächeln auf den Lippen, das ich nur halb ernst meine.

"Apropos...", er zieht das Wort lang wie Kaugummi, "Wenn du Bock hast, kannst du nächste Woche zu mir kommen." Er streicht sich eine braune Strähne aus dem Gesicht. "Jona und ich, also, Angelheart, wir geben eine kleine Party. Silvester und so."

Ich frage nicht, was mir auf der Zunge liegt. Kommt Noah auch? Das kann ich nicht fragen, weil ich keinen Anspruch auf die Antwort darauf habe. Außerdem habe ich streng genommen nicht die geringste Ahnung, was mich erwartet. Schließlich wissen wir beide ganz genau, wie verrückt David mal nach ihr gewesen ist, und das vor nicht allzu langer Zeit. Ich lasse mir nichts anmerken und ziehe eine Augenbraue hoch. "Party?"

"Das ist so eine Zusammenkunft von Leuten, die man nicht ganz scheiße findet. Mit Musik und... was zum Essen und Trinken."

"Danke." – "Also ist das ein Ja?"

Ich zögere meine Antwort heraus, obwohl ich keine Sekunde überlegen muss. Nur nicht zu übereifrig wirken. "Klar, warum nicht."

Meine Chance. Da ist sie. 

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt