6 - Familie

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Noah

Es ist zehn vor zwölf, als ich Jonas Party verlasse. Ich verabschiede mich nicht – Maya will mich wahrscheinlich eh nicht sehen und ich möchte weder David noch Jona noch irgendeiner ihrer Groupies begegnen. Stattdessen schleiche ich mich durch die Garage zurück in den Hausflur, wo ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen lasse. Leise, obwohl es auch laut keinen Unterschied gemacht hätte.

Eine Gänsehaut überzieht meine nackten Arme, als ich in die Nachtluft trete. Scheiße, ich hätte echt eine Jacke mitnehmen sollen. In der letzten halben Stunde muss es bestimmt noch mal weitere fünf Grad runtergekühlt sein. Die kalte Luft brennt in meinem Hals.

Acht Minuten. Ich fange an zu rennen, um mich wenigstens ein bisschen aufzuwärmen. Es ist so still draußen, dass die Nacht fast schon friedlich wirkt. In den Fenstern der Häuser, an denen ich vorbeilaufe, glühen bunte Lichterketten, auf den Fensterbänken stehen Lichterbögen mit künstlichen Kerzen, kleine Weihnachtsmänner mit dickem Bauch und nackte, goldene Babyengel in sanfter Beleuchtung. In einem Vorgarten sind die zwei großen, runden Buchsbäume von einem Netz gelb glühender Lichter überzogen.

Sechs Minuten. Ich bleibe stehen und lasse mich auf die Steinmauer vor einem der Häuser sinken. "Hey Mom", spreche ich in die Stille. Ich weiß, wenn es jetzt hell wäre, würde mein Atem ein kleines Wölkchen in der Luft hinterlassen. Natürlich habe ich sie nicht vergessen. Vier Jahre ist es jetzt her, vier Jahre an diesem Tag.

"Ich hoffe, dir geht's gut." Ich lasse ihr Raum für eine Antwort, obwohl ich ganz genau weiß, dass sie mir nicht antworten wird. "Mir geht's...", ich muss für einen Moment selbst überlegen, "Mir geht's besser, glaube ich. Besser als noch vor ein paar Monaten." Nicht so gut wie vor einem Jahr. Aber was tut das schon zur Sache?

Drei Minuten. "Ein weiteres Weihnachten ohne dich, Mom." Ich stehe auf, gehe weiter. Ich bin schon fast am Wohnheim. "Ich wünschte, du wärst hier." Ich schlucke. "Nicht nur heute, aber heute ganz besonders. Ich weiß einfach nicht... - ich würde so gern mit dir reden."

Ich biege in die Straße ein, die zum Wohnheim führt. Sie wird nur spärlich von zwei flackernden Laternen zu jeder Seite der Straße beleuchtet. "Ich weiß, das sage ich jedes Jahr, aber Mom, wenn du hier bist, gib mir ein Zeichen." Ich starre in den Himmel, tiefschwarz über mir. Es ist so dunkel, dass ich sogar die Sterne sehen kann. Bitte, Mom.

Und dann, als hätte sie mich gehört, öffnet sich der Himmel über mir und lässt erst eine, dann immer mehr kalte Flocken auf meinem Gesicht landen. Sie schmelzen auf meinen Wangen und ich wische sie mir wie Tränen aus dem Gesicht. Eine Minute. Danke, schicke ich still in die Dunkelheit.

Ellie

Ich schmolle, als Bär mir das Handy aus der Hand reißt.

"Hey, gib das wieder her!", protestiere ich, aber er ist zu groß für mich und hält es so hoch, dass ich es nicht mal springend erreichen kann. "Freunde lassen kein drunk texting zu", sagt er schlicht und linst auf das Display, "Besonders nicht, wenn's um Exen geht." Er zieht eine Augenbraue hoch.

"Okay." Ich gebe auf und lasse mich auf sein Bett fallen. Er hat ja Recht. Ich weiß ja selbst nicht, was mich geritten hat, Noah zu schreiben. Vielleicht ist es der Tag. Vielleicht liegt es daran, dass ich ganz genau weiß, dass sie heute an ihre Mom denkt. Dass sie heute in einer sentimentalen Stimmung ist, in der es vielleicht ein bisschen wahrscheinlicher ist, dass sie mir verzeiht. Aber ja, er hat Recht.

"Braves Mädchen." Er tätschelt mir den Kopf, als sei ich ein Hund. Ich schließe die Augen. "Du hast nicht zufällig Lust, morgen mit mir bei meinen Eltern anzutanzen?", frage ich ihn erschöpft.

"Zufällig nicht", entgegnet er und ich sehe, dass er für den Bruchteil einer Sekunde rüber zu Julian schaut, der mit Mo ins Gespräch vertieft ist, "Außerdem hab ich schon was vor. Frag doch Ina."

"Haha." Ich lache theatralisch. Ich weiß nicht, wann ich Ina, meine Ex, das letzte Mal gesehen habe. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie ihrem Plan, Kunst zu studieren, überhaupt nachgegangen ist. Aber eins weiß ich sicher: Wenn Ina wüsste, dass ich wieder da bin, würde innerhalb einer halben Stunde auch der Rest der Stadt darüber informiert sein. Denn wenn es eins gibt, was Ina wirklich liebt, dann ist das Drama.

"Du schaffst das, El!", ruft Iri aus einer Ecke. Anscheinend hat sie alles mitgehört, obwohl sie und Nelly, ihre Freundin – oder besser Verlobte – die ganze Zeit die Köpfe zusammen gesteckt hatten. "Wir schaffen das", berichtigt Nelly sie. Sie hat etwas Eindringliches in ihrem Blick. Etwas, das mir so gar nicht gefällt.

"Ich habe keine Ahnung, wovon du redest", sage ich wahrheitsgemäß.

"Ach, Ellie. Ellie, Ellie, Ellie." Sie seufzt dramatisch. "Wir - ich, du, Bär, Mo, Juli und meine zauberhafte Freundin werden jetzt deine Eltern besuchen gehen."

Ich lache laut. Das kann sie nicht ernst meinen.

"Das ist nicht dein Ernst", sagt der sonst so stille Mo. Danke.

"Ich auch?", fragt Juli, der wohl vor allem überrascht ist, dass er jetzt wie selbstverständlich ebenfalls zu unserer kleinen Gruppe gehört.

"Klar, du auch", antworte ich ihm sanft. Juli ist zwar ein bisschen... awkward, aber ich mag ihn. Er ist ziemlich witzig, auf eine sehr trockene Art und Weise.

"Ich sehe, auch die Herrin der Stunde ist überzeugt!", sagt Nelly wohlwollend, "Dann kann's ja losgehen."

Und bevor ich mich dagegen wehren kann, ziehen wir uns alle unsere Mäntel an und unsere Schals und Mützen über und machen uns von Bär und Julis Apartment aus in Richtung des Hauses meiner Eltern. Es ist eine alberne Aktion, aber ich habe die Anwesenheit meiner Freunde vermisst, also lasse ich mich von ihnen mitreißen. Außerdem wäre ich spätestens morgen Mittag eh bei meinen Eltern aufgeschlagen – was machen da also schon ein paar Stunden?

Während die kalte Dezemberluft unsere Lungen füllt, entfaltet bei uns allen beinahe zeitgleich der Glühwein seine Wirkung. Mein Kopf ist heiß und als wir am Vorgarten ankommen, sind wir alle am kichern.

"Psssht!", ermahne ich meine Freunde, aber kann dabei selber nicht ernst bleiben. Leider lässt sie das nur noch lauter kichern. Ich halte meinen Zeigefinger an meinen Mund.

"ELLIE IST WIEDER DA!", platzt Irene heraus. Sie winkt dabei wie wild mit den Armen. Oh man. Eigentlich sollte man denken, sie mit ihren knapp 1,80m sollte den Alkohol am besten vertragen, aber vielleicht ist es auch nur ihr ohnehin schon quirliger Charakter, der durch den Glühwein verstärkt wird.

Nelly umarmt sie von hinten und hält ihr mit beiden Händen den Mund zu, aber das bringt sie nur noch mehr zum Lachen. "DEINE HAARE KITZELN!", grölt sie und windet sich aus Nellys Griff.

In einer der oberen Fenster des Hauses geht Licht an.

"Runter!", zische ich den anderen zu und so ducken wir uns alle hinter die kahlen Hecken, kichernd und schwankend. Ich habe mich lange nicht mehr so gut gefühlt. Durch die Zweige, die ihre letzten Blätter schon vor Monaten fallengelassen haben, erkenne ich die Silhouette meiner Mutter am Fenster. Für ein paar Momente verweilt sie dort, dann geht das Licht wieder aus.

"Willst du reingehen?", schubst mich Iri von der Seite an. Ich überlege, aber schüttele dann den Kopf: "Nein." Ich weiß, es macht keinen Unterschied. Ein paar Stunden, höchstens. Aber gerade in diesem Moment bin ich genau da, wo ich hingehöre. So sehr ich meine Eltern auch liebe, diese paar Menschen, mit denen ich mich gerade in diesen Hecken verstecke, sind mindestens genauso sehr meine Familie. Und dieser heutige Abend gehört nur ihnen. 

Ellie &Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt