Nachdem Margaret die letzten Teller in der Küche abgewaschen hat, wirft sie das Geschirrtuch über ihre Schulter, wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab und begibt sich in die verqualmte Stube des Gasthauses. Dort entdeckt sie Barthos, der gerade die Stühle auf den Tisch stellt. Barthos ist der Sohn ihres Arbeitgebers und wird eines Tages das Gasthaus erben. Im Gegensatz zu seinem Vater kann er die Situation von Margaret verstehen und meint versöhnlich: „Geht's jetzt gleich nach Hause?", „Ja... übers Wochenende hab ich bei Freunden geschlafen, aber nächstes Mal wird's schwierig. Zu schade, dass Wasserau nicht gleich ums Eck liegt.", seufzt die Hobbitfrau und steht dem freundlichen Kollegen bei und hebt ihm die Stühle entgegen.
Währenddessen fragt Barthos: „Wie geht es deinem Vater?". Ihre Mundwinkel, die sich noch eben zu einem Lächeln verzogen haben, fallen schlagartig hinab. Entmutigt senkt sie den Blick: „Wie immer. Er interessiert sich nur fürs Kartenspiel und sein Pfeifenkraut. Etwas anderes gibt es in seiner kleinen Welt nicht.". Als der junge Mann das zu hören bekommt, hebt er besorgt die Augenbrauen. Jeder im Gasthaus weiß, dass die Familie Braun nicht gerade zu den wohlhabenden Hobbits im Auenland gehört. Deswegen vermeidet Margaret, die älteste Tochter von Erenfried Braun, über Familienangelegenheiten zu sprechen.
Als alle Stühle auf den Tischen stehen und Barthos den Besen zur Hand nimmt, meint er zu ihr: „Na gut, du kannst nach Hause gehen. Pass auf dich auf.". Aber Margaret verzieht das Gesicht: „Hast du nicht was vergessen?", „Was denn?", „Es ist Sonntag.", erklärt sie dem vergesslichen Mann. Sie will es nicht laut aussprechen, in Sorge sein Vater könne sie hören. Doch Barthos zuckt nur fraglich mit den Schultern: „Heute ist der erste... nein, der zweite März... warte... hast du Geburtstag?".
Manchmal kann sich Margaret bei seiner Vergesslichkeit ein lautes Lachen nicht verkneifen und tritt an ihn heran: „Nein, du Dussel. Meinen Lohn.". Den letzten Teil flüstert sie leise, damit Herr Butterblume nichts mitbekommt. Auf einmal geht in seinen Augen ein Licht auf: „Ich Dummkopf. Natürlich.", er stellt den Besen zur Seite und eilt hinter den Tresen, um die Kasse zu öffnen.
Jedoch muss ausgerechnet in diesem Moment sein Vater auftauchen. Er schleppt sich die letzten Stufen aus dem Keller herauf, bleibt am Eingang zur Küche stehen und entdeckt seine Angestellte ganz ehrfürchtig neben einem Hocker, wo sie wartet, dass man ihren Lohn auszahlt. „Du dachtest wohl, du kannst dich einfach so davonstehlen.", führt Herr Butterblume jähzornig an und stellt sich neben seinen Sohn. Sofort verschließt der Gastwirt die Kasse und blickt auf Fräulein Braun hinab. Er hat nicht vergessen, was heute passiert ist.
„Leer deine Taschen.", befiehlt er und deutet auf ihre Figur. Margaret schüttelt den Kopf: „Was?", „Leer deine Taschen! Los! Ich will sehen, was du da drinnen hast!". Widerwillig kramt die Bedienung in ihren angenähten Rocktaschen nach dem Trinkgeld, das ihr die Gäste beim Vorbeigehen zustecken. Sie legt die wenigen Münzen auf den Tisch, wirft einen verächtlichen Blick auf Herrn Butterblume, der mit einem Wisch ihr Trinkgeld in einen Beutel wirft und ihn an seinen Gürtel befestigt. Währenddessen erwähnt er: „Zuspätkommer brauchen kein Trinkgeld. Und jetzt ab. Wir sehen uns in einer Woche, pünktlich. Oder ich kürz dir auch noch deinen Tageslohn.".
Ohne ein Wort verabschiedet sich Margaret von ihrem Arbeitgeber, reißt den bodenlangen Staubmantel vom Kleiderständer und stürmt aus dem tänzelnden Pony. Nachdem die Tür ins Schloss fällt und sie sich umdreht, peitscht ihr der strömende Regen entgegen. Dieser Tag kann einfach nicht schlimmer werden. Es ist Sonntagnacht, ihr bleibt nichts anderes übrig, als zu dieser Uhrzeit im Regenwetter nach Hause zu marschieren. Fürs Wochenende nimmt sie jedes Mal den weiten Weg in Kauf, um mit ihrem Verdienst ihrer Familie unter die Arme zu greifen. Mit baren Füßen stapft sie durch den matschigen Boden und lässt schon bald Bree hinter sich.
Nachdem Margaret die Hälfte des Weges zurückgelegt hat, nimmt der Wolkenschauer ein ersehntes Ende. Nur vereinzelte Tropfen fallen auf die Erde hinab. Der Regen hat den unebenen Boden des Grünwegs derartig durchnässt, dass sie nicht mehr unterscheiden kann, ob sie in Matsch oder Pferdemist getreten ist. Bis nach Wasserau sind es 60 Meilen, für die sie mindestens einen Tag einplanen muss. Meistens findet sie eine Mitfahrgelegenheit und darf auf den Wagen von benachbarten Hobbits aufsteigen, aber das auch nur für ein kurzes Wegstück, denn nur selten führt es Halblinge aus dem Auenland in das entfernte Bree.
Erschöpft und übermüdet schleppt sich die Hobbitfrau den Weg entlang. Um ihre Einsamkeit etwas erträglicher zu machen, summt sie ein kleines Lied vor sich hin. Bisher ist ihr niemand begegnet, der einzige Vorteil, um zu dieser Tageszeit auf den Straßen in Richtung Hobbingen zu wandern. Vielleicht hätte sich Margaret für diese Nacht eine Bleibe suchen sollen. Der Regen hat ihre Kleidung vollkommen durchnässt, mit Sicherheit wird sie sich eine Erkältung eingefangen haben. Aber eine Unterkunft hätte sie nur wieder ihren Lohn gekostet, da hätte sich der Weg nach Bree gar nicht ausgezahlt.
Jedoch hält sie inne und verzieht ihre Augen zu Schlitzen, als sie in der Entfernung die Umrisse einer fremden Gestalt entdeckt. Ihre scharfen Augen machen einen Mann auf einem Pferd aus, sodass sich ungutes Gefühl in ihrer Magengegend ausbreitet. In der tiefen Nacht im Nirgendwo jemanden anzutreffen, bereitet selbst ihr Unbehagen. Sie ist allein und wer weiß, was dieser Mann im Schilde führt. Vielleicht ist er ein Räuber und will sie überfallen. Oder gar schlimmeres. Margaret weiß, dass es gefährlich ist, sich nachts in der Wildnis aufzuhalten, aber was hat sie für eine andere Wahl. Sie will nach Hause.
Die kleine Frau spricht sich Mut zu, denn sicherlich handelt es sich nur um einen Durchreisenden. Anstatt sich in Sicherheit zu bringen, indem sie hastig ins Gebüsch springt und sich dort versteckt bis der Reiter an ihr vorbeigezogen ist, zieht sie die Kapuze ihres Mantels über den Kopf, beschleunigt die Abfolge ihrer Schritte und greift unterm Gehen zu ihrem Messer, das sie wie eine Waffe festhält. Wie ein Windzug prescht sie über den Weg, versucht sich ungesehen an dem Fremden vorbeizuschleichen in der Hoffnung, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen.
Je näher Margaret ihm kommt, desto mehr fällt ihr das Atmen schwer. Ihr Blick richtet sie zum Boden, als sie an ihm vorbeizieht. Sie nimmt keinen Blickkontakt auf, um eine Konfrontation zu vermeiden. Jedoch ertönt in der Finsternis eine tiefe Stimme, die sich an Fräulein Braun richtet: „Entschuldigung.". Vor Schreck bleibt sie wie angewurzelt stehen und schließt erbost die Augen. Der Durchreisende hat sie bemerkt. Ihr Herz schlägt wie ein Hammer gegen ihre Brust, der Griff um das Messer verfestigt sich. Ihr Plan, keine Aufmerksamkeit zu erregen, ist gescheitert.
Zaghaft dreht sie sich um und blickt mit geweiteten Augen zu dem Fremden, um zu erkennen, dass es sich um einen kleingeratenen Mann auf einem Pony handelt. Aber das macht ihn nicht weniger gefährlich. Er bereitet ihr Angst, spätestens jetzt soll sie die Flucht ergreifen, aber wie gelähmt bleibt sie stehen und stellt sich ihm gegenüber. Schützend legt sie die Arme um ihren durchgefrorenen Körper und verfolgt mit den Augen, wie er sein Pony zu ihr dreht und fragt: „Keine Sorge, ich möchte Euch nicht lange aufhalten.". Bei genauerer Betrachtung stellt sie fest, dass er ziemlich groß ist– nicht mannsgroß, aber größer als ein Hobbit – und einen Umhang trägt, dessen Kapuze er von seinem Kopf zieht. Die Dunkelheit macht es ihr unmöglich, sein Gesicht zu erkennen.
„Ich bin auf dem Weg nach Bree, bin ich noch auf dem Grünweg?", fragt er höflich. Margaret zieht den Schal enger um ihr Kinn und antwortet kleinlaut: „Ja, ungefähr drei Wegstunden von hier.". Der Fremde nickt verständlich, wirft einen Blick in die entgegengesetzte Richtung. Zu ihrem Leideswesen macht er nicht kehrt und setzt seine Reise fort, sondern mustert sein Gegenüber und bemerkt erstaunt: „Es ist ungewöhnlich, eine Frau zu dieser Tageszeit im Nirgendwo anzutreten. Was treibt Euch nachts nach draußen?", „Ich bin auf dem Heimweg.", „Ganz allein?", hackt er verwundert nach.
Ein ungutes Gefühl beschleicht Margaret, als der Fremde sie zu ihren Hintergründen ausquetscht. Sie mag es nicht, wenn sich Fremde für sie interessieren, insbesondere, wenn sie diesen gerade erst begegnet ist. Fest umklammert sie den Griff ihres Küchenmessers und entgegnet erbost: „Das hat Sie nicht zu interessieren.". Damit stößt sie dem Durchreisenden ziemlich gegen den Kopf, der ihre Abweisung gefasst aufnimmt: „Na, schön. Kann ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein? Soll ich Sie ein Stück begleiten?", „Darauf kann ich verzichten, danke. Gute Weiterreise.", erwidert sie stumpf und wendet sich von ihm ab.
Als Margaret sich umdreht und einen Fuß nach dem anderen setzt, kann sie spüren, wie der Fremde ihr hinterhersieht. Aus ihrem Gehen wird ein Laufen, ihr Herz schlägt ihr bis zur Kehle und sie schwitzt unter den schweren Schichten ihrer Kleidung. Das junge Fräulein verschwindet in der Nacht. Nach dieser seltsamen Begegnung will sie einfach nur nach Hause. Das ist das Einzige, was sie will.
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Frühlingsgefühl
FanficMargaret Braun führt für eine Hobbitfrau ein recht unstetes Leben, das sich durch eine schicksalshafte Begegnung im tänzelnden Pony schlagartig ändert.