Kapitel 3: Ist es das wirklich wert?

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Als die Sonne über die Hügel schaut, erreicht Margaret endlich das Auenland. Ganz erschöpft spaziert sie durch Wasserau, entfernt sich von dem Weg und nimmt über die Wiese eine Abkürzung zum alten Familienhof, der schräg am Hang des Tals liegt. Wenigstens ist es schon Solmath, kein Schnee bedeckt mehr die buckligen Ländereien von Hobbingen, was ihren Nachhauseweg um einiges erleichtert. Hühner laufen ihr entgegen, zwei Schweine liegen im Schlamm und genießen als einzige das unbeständige Frühlingswetter.

Gerade nähert sie sich dem Haus, da öffnet sich bereits das Fenster und ihr alter Vater schaut heraus. Erenfried Braun ist ein eingerosteter Hobbit, der von Tag zu Tag langsamer wird. Anstatt am Hofe mitanzupacken, raucht er lieber Pfeife und lungert vom späten Nachmittag bis tief in die Nacht im Grünen Drachen herum. Die ganze Arbeit fällt letzten Endes seinen fünf Kindern zur Last, insbesondere seiner ältesten Tochter Margaret, die sich mit dieser Ungerechtigkeit bereits abgefunden hat.

Anfangs kann Erenfried sie nicht erkennen, er zwickt die Augen zusammen, sucht an der Kette um seinen Hals die dicke Lesebrille und setzt sie auf die große Säufernase. Von Kopf bis Fuß mustert er das junge Fräulein und stützt sich am Fensterbrett ab. „Du bist spät dran.", entgegnet er, zieht einmal an seiner Pfeife und pustet den Rauch in die frische Morgenluft hinaus. Margaret bleibt verdutzt stehen. Als es ihm zu kalt ist, schließt er augenblicklich das Fenster. Im nächsten Moment geht die Haustür auf, vor ihrem Vater rennt eine meckernde Ziege heraus und tollt ganz erpicht im matschigen Grund umher. Während sie ihm entgegenkommt, fischt sie bereits den Tageslohn aus ihrer Jackentasche und reicht ihm den Beutel: „Mehr gibt's nicht.". Ganz gierig hält seine zittrige Hand den Sack fest, während er zu seiner Tochter meint: „Wenn du schon auf den Beinen bist, kannst du gleich den Hühnern die Eier abnehmen.".

Mit diesen Worten verschwindet Erenfried wieder ins Haus, unwissend, dass Margaret den Großteil ihres Lohns für sich behalten hat. Sie schleppt sich mit dem Korb in den anliegenden Hühnerstall. Während ihre Hand in den Nestern nach Eiern absucht, beginnt sie wieder an diese seltsame Begegnung auf dem Grünweg zu denken. Dieser fremde Mann will ihr nicht aus dem Kopf gehen. Ein kalter Schauer fährt ihr über den Rücken, wenn sie sich vorstellt, was alles hätte passieren können, wäre sie nicht davongelaufen. Sie weiß, wie gefährlich es ist. Und doch treibt es sie jedes Wochenende nach Bree, nur für ein paar weitere Groschen, die sich sowieso ihr Vater unter den Nagel reißt.

Träge schleppt sie sich zurück zum Haus, stellt den Korb an der Türschwelle ab und bleibt für eine Weile stehen. Im Moment kann sie keine Gesellschaft ertragen, weswegen sie hinüber zum Stall wandert. Dort lässt sie sich in einen Heuhaufen fallen und schließt die Augen. Die Übermüdung holt sie ein, keine Sekunde später ist sie eingeschlafen.

Ihr wohlverdienter Schlummer ist nicht von langer Dauer, als ihre vier Geschwister aus dem Haus trudeln und nach ihr suchen. Als Theobald, der Jüngste unter ihnen, seine Schwester im Heulager findet, ruft er den Rest zu sich. Daisy kommt als Erstes angerannt und wispert entsetzt: „Lebt sie noch?", „Sicher doch.", erwidert Rosalinde, „Das arme Ding... hat sich wieder kaputt geackert.", „Und warum?", meldet sich die schwarzseherische Olivia zu Wort, „Weil niemand außer ihr was macht! Kein Wunder, dass sie hier halbtot liegt!".

Durch das Stimmengewirr wacht Margaret aus ihrem Dämmerschlaf auf, reibt sich die müden Augen und raunzt: „Was ist hier los?", „Du bist los.", spricht Rosalinde und kommt ihrer zwei Jahre älteren Schwester entgegen. Sie streckt den Arm aus, hilft ihr auf die Beine und zieht den tropfnassen Schal von ihrem Hals: „Du gehörst ins Bett. Komm, ich bring dich hinein und mach dir einen Tee.". Die Versammlung löst sich auf, nur noch Rosalinde leistet ihrer Schwester Gesellschaft und bringt sie ins Haus.

Draußen nieselt es noch immer, als Margaret gekleidet in trockenen Gewändern im Sessel kauert und ihre Hände an der heißen Tasse wärmt. Mittlerweile kann sie das Wetter nicht mehr ertragen und wischt sich die feuchten Haare hinters Ohr. Rosalinde fragt: „Und bei dem Wetter bist du nach Hause gegangen?", „Ich hab's in Bree nicht mehr ausgehalten. Herr Butterblume hat mir das Trinkgeld gestrichen, da wollte ich ihn nicht fragen, ob ich die Nacht über in der Stube bleiben darf.", erzählt sie und blickt hinüber zur Couch, wo ihr Vater liegt. Er ist schon längst eingenickt, auf seiner Nase hängt die Lesebrille schief herab, während ein aufgeschlagenes Buch auf seinem Bauch ruht, der sich bei jedem raschelnden Atemzug hebt und wieder senkt.

Rosa schüttelt den Kopf: „Ich versteh nicht, warum du dir das antust. Erst der weite Weg und dann dieser unfreundliche Schuft. Ist es das wirklich wert?", „Er bezahlt besser als im Grünen Drachen. Und hätte Vater dort nicht so viele Schulden, würde ich noch immer dort bedienen.", erklärt Margaret und nimmt einen Schluck von ihrem Tee.

Auch wenn sich Margaret eine Erklärung für ihr Handeln zurechtgelegt hat, kann Rosalinde kein Verständnis dafür aufbringen und fährt fort: „Wären wir alle solche Nichtsnutze wie unser Vater, hätten wir schon längst den Hof verloren.", „Du sagst es.". Nachdem Margaret den Tee ausgetrunken hat, wandert sie die knarzenden Treppen hinauf in das Zimmer, das sie sich mit Rosalinde und Theobald teilt. Als die Tür ins Schloss fällt, schält sie sich aus ihren Kleidern und lässt sie achtlos am Boden liegen. Anschließend wirft sie sich ins Bett und schließt die Augen. Noch nie ist sie so überglücklich gewesen, ein Kissen unter ihrem Kopf zu spüren, eine warme Decke um ihren Körper zu wickeln und sich von der langen Heimreise erholen zu können.

Nur leider muss sie feststellen, dass sie nicht gleich einschlafen kann. Gedankenversunken sieht Margaret hinauf zur Decke und lässt die Erlebnisse der vergangenen Tage Revue passieren. Sie kann fast schon darüber lachen, würden ihre Füße nicht von der Hetzerei auf ihrem Nachhauseweg schmerzen. Aus gutem Grunde hat sie Rosalinde nichts von dem seltsamen Mann erzählt, der wie ein Gespenst in ihrem Kopf herumspukt. Jene würde sich nur Sorgen machen und hätte ein weiteres Gegenargument in der Hand, das gegen ihre Anstellung im tänzelnden Pony spricht. Der Weg ist gefährlich, aber es ist nichts passiert, denn Margaret hat sich rechtzeitig dazu entschieden, die Flucht zu ergreifen. Der Durchreisende hat viel zu viele Fragen gestellt, da ist ihr nichts anderes übriggeblieben als um ihr Leben zu rennen. Ihre Mama hat einmal gesagt: „Steig ja zu keinem Fremden aufs Pferd!", was sie sich zu Herzen genommen hat. Seither misstraut sie grundsätzlich fremden Gesichtern. Ob er ihr die Angst anerkannt hat? Mit dieser Frage fällt Margaret in einen ruhigen Schlaf und erwacht erst wieder am späten Nachmittag.

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