Kapitel 7: Mehr als das

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Die Stimmung im Hause Braun hat sich keineswegs verbessert. Keiner will über die Geburtstagsfeier von Onkel Eichler sprechen, denn das übernehmen bereits die Tratschweiber von Wasserau, die sich ihre Münder nahezu zerreißen. Das Benehmen der Töchter von Erenfried Braun hat für viel Gesprächsstoff gesorgt, während man die Gerüchteküche um Margaret und dem geheimniskrämerischen Bilbo Beutlin schürt. Auf ihrem Weg nach Bree bekommt sie die Abscheu der Nachbarn zu spüren, als sie am Donnerstagmorgen aufbricht und über die große Oststraße wandert. Etliche Halblinge begegnen ihr und mustern die junge Dame von Kopf bis Fuß, dabei steht jedem vorbeiziehenden Nachbar der Spott ins Gesicht geschrieben.

Da im Leben eines Hobbits nicht viel passiert, haben sich die Geschehnisse wie ein Lauffeuer verbreitet. Jeder im Umkreis von 30 Meilen weiß von der Geburtstagsfeier der Familie Eichler und was dort passiert ist. Und wenn sie selbst nicht dabei waren, haben sie von anderen erfahren, dass Margaret Braun ein Auge auf den viel älteren und vermögenden Bilbo Beutlin aus Beutelsend geworfen hat. Diesen Eindruck hat Tante Lily noch befeuert, als sie vor allen Gästen auf der Geburtstagsfeier versucht hat, ein Treffen zu arrangieren, bevor Herr Beutlin die Flucht ergriffen hat.

Eine Tatsache, die Margaret nicht mehr in Ruhe lässt. Der Gedanke setzt ihr zu, dass nun jeder in ihrem Umfeld meint zu glauben, dass sie Herrn Beutlin schöne Augen mache, nachdem sie frenetisch mit ihrem geblümten Taschentuch den Kirschsaft von seiner Weste abgetupft hat. Manche Klatschtanten behaupten sogar, dass sie diese Situation absichtlich herbeigeführt hat, nur um seine Aufmerksamkeit zu erhalten, denn jeder weiß, dass die nicht gutbetuchte Familie Braun verzweifelt versucht, ihre finanzielle Situation zu verbessern, und anscheinend sind ihnen alle Mittel recht.

Auf dem Weg nach Bree besteht ihre Hoffnung darin, dass dort niemand etwas von den Geschehnissen im westlich gelegenen Auenland erfahren hat. Normalerweise finden solche Geschichten kein Gehör im tänzelnden Pony, wo man eher von Verbrechern und Abenteurern erzählt. Vielleicht zieht es Margaret deswegen jedes Wochenende in die entfernte Stadt, auf der Suche nach einer Auszeit von ihrem eintönigen Leben. Hier ist sie mehr als die Tochter von Erenfried Braun aus Wasserau. Im Gasthaus ist sie die nette Greta, die sofort rennt, wenn man ihren Namen schreit.

Daher betritt sie stets mit einem Lächeln die Schänke. Der Geruch von fettigem Braten und frisch gerösteten Kartoffeln steigt in ihre Nase, als sie den Mantel an den Kleiderständer hängt und ihre Schürze anlegt. Barthos begrüßt sie mit einem munteren Grinsen, während das goldene Bier aus den Fässern fließt. Gleichermaßen wie der Regen, der laut gegen das Fenster prasselt. Irgendwann schallt das Gelächter einer alten Frau durch den Raum, die sich an dem Witz eines Freundes erheitert. Auf der anderen Seite rauchen alte, grimmige Männer ihre Pfeifen und beschweren sich über das Leben, wiederum an einen anderen Tisch spielen junge Halblinge Karten mit hohen Einsätzen. Ein lebhaftes Treiben herrscht im tänzelnden Pony, sodass ihr eigenes Chaos für einen Abend in den Hintergrund rutscht.

Die Bedienung eilt mit gefüllten Krügen durch die Stube und schlängelt sich galant an den Gästen vorbei, sodass sie in der Menge völlig untergeht. Doch auf ihr ruhen die Augen eines wiederkehrenden Gastes, der laut durch das Stimmengewirr ruft: „Miss Margaret.". Diese Anrede ist sie nicht gewohnt, weswegen sie sich verdutzt zu dem Ursprung der tiefen Stimme umdreht und den Zwergen im Eck entdeckt. Allein sitzt er an einem Tisch, mit einer qualmenden Pfeife, und überblickt von seinem Platz aus das gut besuchte Gasthaus. Auch wenn Margaret ihn nicht kennt, freut sie sich dennoch ihn hier anzutreffen. Nachdem sie der durstigen Kundschaft die gefüllten Bierkrüge gebracht hat, erlaubt sie sich eine kurze Auszeit und begibt sich zu dem namenlosen Zwerg: „Seltsam. Ich hätte schwören können, unser Eintopf hätte Euch vertrieben.", „Ich hatte auch nicht vor, wiederzukommen.", erklärt er und nimmt einen kräftigen Zug von seiner Pfeife.

Margaret schweigt. Sie weiß nichts, auf diese Aussage zu erwidern, also verhält sie sich wie eine gute Angestellte und fragt: „Kann ich Euch noch irgendetwas bringen?", „Das hier ist ein Gasthaus, stimmt's?", fragt er, „Ich suche nach einer Unterkunft.". Nickend erwidert sie: „Wir bieten auch Zimmer an, ja, aber ich weiß nicht, ob noch welche frei sind. Da muss ich nachfragen.", und wirft einen Blick zu Barthos Butterblume hinüber, der ihr möglicherweise darüber Auskunft erteilen könne.

Wieder richtet sie ihre Augen auf den Zwerg, packt all ihren Mut zusammen und meint mit einem verschlagenen Lächeln auf den Lippen: „Wenn Sie schon ein Zimmer haben wollen, brauche ich einen Namen, den ich in unser Buch eintragen kann.", „Thorin.", entgegnet er schmunzelnd, „Nur Thorin.". Ein recht kluger Schachzug für eine kleine Dame, die auf diese verstohlene Art und Weise seinen Namen in Erfahrung gebracht hat. Mit einem Nicken resigniert sie seinen Namen und macht sich sofort auf den Weg zu Butterblume Junior.

Margaret zwängt sich durch den regen Andrang am Tresen, wo Barthos gerade den neusten Klatsch aus Bree verbreitet. Als seine Geschichte ein Ende findet und sich die Kundschaft glucksend auf die Schenkel klopft, spricht die Bedienung in sein Ohr: „Ein gewisser Herr namens Thorin möchte für heute ein Zimmer haben.", „Dann hat er Glück.", während er das Grundbuch zur Zimmervermietung in die Hand nimmt, „Eins ist noch frei. Kann er denn bezahlen?", „Er sieht nicht gerade wie ein Bettler aus. Und zur Not kassieren wir sein Schwert ein.", worüber er nur lachen kann: „Wirklich klug. Mit deiner bauernschlauen Art kommst du noch weit, Greta.", und notiert den ungewöhnlichen Namen in das Grundbuch.

Als die ersten Gäste die Schänke verlassen und der Betrieb im tänzelnden Pony abnimmt, ersucht Margaret das Wort zu Thorin, der ganz vertieft über einer Karte hängt. Er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, bis sich die Hobbit-Dame räuspert und seine müden Augen auffängt. In ihrer Hand liegt der Schlüssel, den sie in der Luft hält und ihm schließlich überreicht. Und weil gerade ihr Chef nicht da ist, nimmt sie gegenüber von ihm Platz: „Das ist das letzte Zimmer, das heute noch frei ist. Ihr habt verdammt viel Glück, ansonsten hätte ich Euch nach Hause schicken müssen.".

Erleichtert seufzt der Zwerg: „Vielen Dank, Miss Margaret. Ich weiß, Ihre Hilfe zu schätzen.", er nimmt den Schlüssel an sich und kramt aus seiner Tasche einen Beutel gefüllt mit Gold. Während sie die Münzen nachzählt, beobachtet Thorin die Bedienstete genau und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Schließlich schiebt sie den Beutel in ihre Rocktasche und bedankt sich bei dem Gast. Aber anstatt an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, wie man es von einer Angestellten erwartet, bleibt Sie sitzen und fragt neugierig: „In Bree sieht man nicht alle Tage Zwerge. Was vertreibt Euch in die Stadt?". Thorin senkt betroffen den Blick und murmelt: „Ich bin auf der Suche nach jemanden. Aber... von ihm fehlt jede Spur.".

Da er das Gefühl hat, dass er der Bedienung vertrauen kann, schiebt er ihr die Karte hinüber und deutet auf die verschiedenen Orte im Breeland. Doch Margaret verfolgt nur mit den Ohren, was der Zwerg ihr mitteilen will: „Ich war schon überall, ich war bei den nördlichen Breefeldern, in den Mückenwassermooren und sogar bei den Wetterbergen. Kennt Ihr irgendwelche Orte, die ich noch nicht abgesucht habe?", fragt er. Aber Margaret faltet ihre schwitzigen Hände zusammen, als sie die verschiedenen Buchstaben zu Gesicht bekommt, und zuckt unwissend mit den Schultern. „Tut mir leid, aber ich bin recht schlecht, was das Lesen von Karten betrifft.", flüstert sie kleinlaut, ehe sie peinlich berührt den Kopf senkt.

Der Zwerg schaut sie an, lächelt kurz und nimmt die Karte wieder an sich: „Das muss Euch nicht leid tun.". Behutsam faltet er das Pergament zusammen und steckt sie in die Innentaschen seines Wams. Margaret meint wohlwollend: „Ich bin mir sicher, dass Ihr ihn finden werdet. Morgen ist ein neuer Tag, an dem Ihr weitersuchen könnt.". Thorin nickt, trinkt an seinem Bier und durchleuchtet die Bedienung aus dem Augenwinkel. Als er den Krug absetzt, fragt er aus purer Neugierde: „Darf ich Euch heute fragen, was einen Hobbit aus dem Auenland hierher verschlägt?".

Mit einem feixen Lächeln lehnt sie sich zurück, sammelt ihre Gedanken und erzählt ihm: „Dasselbe frage ich mich auch manchmal. Wahrscheinlich die gute Bezahlung, besonders an Wochenenden. Als Bedienung bekomme ich Trinkgeld, wofür man immer eine Verwendung findet.", „Gibt es denn im Auenland keine Gasthäuser?", „Doch, aber...", Margaret gerät in Erklärungsnot, „...man hat mich dort nicht länger gebraucht. Mein Vater... ach, ich will Euch nicht mit meinen Problemen belasten. Das ist keine spannende Geschichte.". Aber Thorin will es wissen: „Erzählt es mir. Ich hab Zeit.". Eine Weile denkt sie darüber nach, ob sie ihre Probleme einem Fremden anvertrauen kann. Aber ehe sie beginnt, zu erzählen, schrecken beide auf, als eine laute Stimme ruft: „Margaret!".

Herr Butterblume Senior ist aus dem Keller zurückgekehrt und entdeckt die Bedienung an dem Tisch eines Gastes. Das sieht kein Arbeitgeber gern. Sofort erhebt sich die Hobbit von ihrem Platz: „Entschuldigung, ich bin gleich zurück.", und schwenkt hinüber zum Wirt. Thorin verfolgt mit seinen Augen die Unterhaltung. Obwohl er kein Wort versteht, weiß er anhand der aufgebrachten Handbewegungen, dass Miss Margaret zurechtgewiesen wird. Eigentlich soll ihn das nicht stören, er kennt sie gerade mal ein paar Tage, aber als der Wirt sie grob am Arm packt und sie vor Schreck zusammenzuckt, will er am liebsten aufstehen und die Bedienung in Schutz nehmen, wenn da nicht dieses verdammte Zimmer zur Miete freistünde. Thorin möchte es sich nicht mit dem Gastwirt verscherzen und seinen Schlafplatz verlieren, er hat in den letzten Wochen oft genug in der Wildnis geschlafen.

Nach der Standpauke kehrt Miss Margaret zu seinen Tisch zurück und meint in überfreundlich hoher Tonlage: „Kommt mit, ich zeige Ihnen das Zimmer.". Thorin greift zu seinen Habseligkeiten und folgt der Angestellten die Treppen hinauf. Als sie oben angelangt sind und sich außerhalb der Hörreichweite von Herrn Butterblume befinden, fragt der Zwerg besorgt nach: „Ist alles in Ordnung?", „Freilich.", antwortet das junge Fräulein peinlich berührt und führt den Durchreisenden an ein Zimmer vorbei, aus dem das laute Schnarchen eines Gastes dröhnt. Zum Glück liegt seine Unterkunft am Ende des Gangs und er muss einen solchen Nachbarn nicht ertragen.

Margaret bleibt stehen und deutet auf das Türschild: „Hier ist es. Es ist nicht viel, aber immerhin eine Bleibe für die Nacht. Das Bett ist nicht allzu groß, es ist eine Maßanfertigung für Hobbits, da hier viele leben und...", dabei fällt ihr auf, wie groß gewachsen der Zwerg doch ist, und macht sich Sorgen, dass er nicht in das kleine Bett passt, „Ich hoffe, dass Ihnen das keine Probleme bereitet... es ist das Einzige, was frei gewesen ist, und...", „Sie brauchen sich keine Sorgen machen, Miss Margaret.", fährt er ihr ins Wort, „Ich werde schon zurechtkommen.".

Das erleichtert die Bedienstete, die zurückhaltend den Blick senkt und spricht: „Falls Sie noch etwas brauchen, dann melden Sie sich. Ich bin noch unten in der Schänke... Ich wünsche Ihnen eine Gute Nacht.", „Gleichfalls.", erwidert Thorin, beobachtet, wie sie sich umdreht und im Gang ums Eck verschwindet. Eine Weile lang bleibt er im Gang stehen und denkt über diese Begegnung nach bis er den Kopf schüttelt und den Schlüssel in das Loch zu seinem Zimmer steckt. Als die Tür aufgeht, springt ihm sogleich die bescheidene Einrichtung ins Auge: die dunkle Holzverkleidung lässt den kleinen Raum noch enger erscheinen, als er bereits ist - in der Ecke steht das besagte Bett, fraglich, ob er überhaupt auf die kurze Matratze passt - neben einem wackeligen Kleiderständer befindet sich eine abgenutzte Kommode vor dem Fenster, mit Blick auf den Hinterhof des dreistöckigen Gebäudes.

Es ist ein beschauliches Zimmer, aber was kann Thorin für den Preis erwarten. Er schließt die Tür hinter sich ab, nimmt gleich seinen Gürtel ab und seufzt. Nach dem anspruchsvollen Fußmarsch schmerzen seine dicken Füße, mit denen er kaum noch aus seinen Stiefeln kommt. Als er seine Armschienen abnimmt, schaut er aus dem Fenster auf die Stadt. Irgendwo da draußen ist sein Vater, der seit viel zu langer Zeit durch Mittelerde streift. Thorin weiß, dass er lebt. Er weiß es einfach. Deswegen muss er ihn finden. Ansonsten will sein Herz keine Ruhe geben.

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