Kapitel 5: Ein Hafen für gestrandete Reisende

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Es ist Freitag. Margaret hat dieses Mal rechtzeitig Wasserau verlassen, um pünktlich vor Herrn Butterblume ihre Schicht anzutreten. Auf dem Weg durch die Stadt denkt sie an nichts anderes als an die Unterhaltung mit Tante Lily. Ihre unverschämten Worte, die haltlos ihr vorlautes Mundwerk verlassen haben, waren dennoch ehrlich gemeint. Zu den aufregendsten Ereignissen im Leben eines Hobbits zählt nun mal die Vermählung, die in der Ahnenkunde neue Familienverzweigungen hervorbringt und deswegen eine solche Bedeutung in ihrem Volk innehält. Aber Margaret kann sich nicht vorstellen, zu heiraten. Zumindest noch nicht. Und sie will erst recht verhindern, dass Lily Eichler am Geburtstagsfest ihres Onkels einen unverheirateten, wohlhabenden Hobbit anschleppt, weswegen sie erst gar nicht erscheinen wird. Sie ist viel zu stolz, um sich im Hintergarten ihrer Verwandtschaft zum Affen zu machen, denn sie weiß, wie die Leute über ihre Familie reden. Da hat sie nun wirklich keine Lust, sich mit verkorksten Sonderlingen abzugeben, deren einzigen Freuden im Leben im Pfeifenrauchen und Briefaustausch liegt.

Eher als sonst erreicht Margaret das Gasthaus Zum tänzelnden Pony. Ihre Füße haben sie schneller als sonst in die Stadt getragen, vielleicht war sie viel zu versunken in ihren Gedanken. Erleichtert öffnet sie die Tür und bekommt gleich Barthos zu Gesicht. Sein Vater ist erstaunt, sie so früh anzutreffen und lässt keine abfällige Bemerkung fallen, was die Bedienung nach der Auseinandersetzung von letzter Woche verwundert. Er reicht ihr die Schürze und meint: „Bevor du die Gäste bedienst, bindest du dir noch die Haare zusammen. Du musst dich sehen lassen können.". Ohne Widerrede eilt sie in die Küche, grüßt den alten Käpten mit einem Wink und stellt sich vor ein Fass, das bis zum Rand mit Wasser gefüllt ist. Mit einem Faden bindet sie das schulterlange, gelockte Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und betrachtet ihr Spiegelbild in der schimmernden Wasseroberfläche. Sie muss zugeben, dass sie mit ihrer Erscheinung keinen guten Eindruck erweckt. Durch den Fußmarsch wirkt sie regelrecht ausgemerzt, weswegen sie ihre Hände anfeuchtet und sich über das glänzende Gesicht wischt. Als sie zurück auf das Spiegelbild blickt, berührt sie vorsichtig die kleinen Sommersprossen, die sich von ihren Wangen aus über ihre kleine Nase ziehen. Punkte, die sie schon als kleines Kind gehasst hat.

Schon längst ruft Barthos in die Küche: „Zwei gekochte Eier mit Speck, Käpten!", auch Margaret begibt sich hinaus. Während am Vorabend nur einzelne Bewohner der Stadt das Gasthaus besuchen, ist das Lokal bei Einbruch der Nacht bis zum letzten Stuhl gefüllt. Durchreisende, Stammgäste und sonstiger Abschaum zeigt sich zur späten Stunde im gutbesuchten Gasthaus. Heute ist Margaret die einzige Bedienung und hat damit zu kämpfen, all den Bestellungen hinterherzukommen. Aber Margaret wäre nicht Margaret, würde sie nicht wie ein Wirbelwind durch die heitere Gesellschaft ziehen.

Erleichtert hält sie inne, als sich das Gewirr im Lokal allmählich löst. Selbst Herr Butterblume wischt sich angestrengt über die Stirn, als der Großteil das Gasthaus verlassen hat. Erschöpft lässt er sich für eine Weile auf einen Hocker nieder und bestellt sich bei seinem Sohn ein Bier. Während die Bedienung mit dem Besen über den Dielenboden fegt, nur Trunkbolde mit hängenden Köpfen am Tresen sitzen und das Summen von Stubenfliegen die Idylle des Raums erfüllt, weiß Margaret, dass ihre Schicht bald ein Ende nimmt. Ein sehnlicher Wunsch der Hobbit-Dame, die es kaum erwarten kann, ihre Füße hochzulegen. Für das Wochenende hat sie sich ein Zimmer oberhalb der Gaststube gemietet, um auch an den folgenden Tagen zu bedienen. Immerhin kann ihre Familie das Geld gebrauchen. Dabei beginnt Margaret mittlerweile von einem eigenen Esel zu träumen, um nicht länger zu Fuß nach Bree zu marschieren.

Leider verfliegen ihre Vorstellungen von einer unbeschwerten Zukunft, als die Tür aufgeht und ein frischer Wind hereinweht. Ein später Gast kehrt in das tänzelnde Pony ein, steht zwischen Tür und Angel und kundschaftet vorerst die Gesichter der Anwesenden aus, bevor er einen Fuß in das Gasthaus setzt. Aber Herr Butterblume, entnervt von dem kalten Luftzug, der durch die offene Tür in die geheizte Stube hereinströmt, ruft: „Rein oder raus?". Der Fremde entscheidet sich, die Tür hinter sich zu schließen. Eine unerklärliche Stille durchdringt den Raum, nur die schweren Schritte seiner Füße sind zu vernehmen, als der kleingeratene Mann seinen Umhang abnimmt und für sich einen Platz am Kaminfeuer beansprucht.

Margaret, die im Eck fest den Besenstiel umklammert, mustert den ungewöhnlichen Besucher, den sie zuvor noch nie gesehen hat. Er muss ein Durchreisender sein. Viel zu klein, um ein Mensch zu sein, und viel zu breit für einen Hobbit. Ein Zwerg, wahrscheinlich aus den blauen Bergen. Als er seinen blauen Umhang über den Stuhl hängt, nimmt er auch sein Schwert herab und lehnt es an den Tisch. Alle wachen Augen im Zimmer beobachten den Neuankömmling, der das Starren seiner Mitmenschen nicht entgangen ist.
Auch wenn er kein gewöhnlicher Stammgast ist, die hier Tag ein, Tag aus ein- und auskehren, ist Margaret dennoch verpflichtet, sich um sein Leib und Wohl zu sorgen. Sie stellt den Besen zur Seite und nähert sich dem Fremden: „Was kann ich Ihnen bringen, mein Herr?". Seine eisernen, blauen Augen durchleuchten sie, misstrauisch, während sein schwarzes, langes Haar wie ein Vorhang sein Gesicht umrahmt. Er verengt die Augen, sagt vorerst nichts, zieht die buschigen Brauen zusammen. Sein Mund ist ein Spalt geöffnet, als wolle er etwas sagen, aber ist unfähig ein Wort herauszubringen. Daher übernimmt Margaret das Reden für ihn: „Ich kann kaltes Bier aus dem Keller holen, wenn Ihr danach verlangt. Und in der Küche darf noch etwas vom Eintopf übrig sein.", „Ja, bitte.", flüstert seine tiefe Stimme unmerklich.

Als die Bedienung aus dem Keller mit einem gefüllten Krug zurückkehrt, kommt Barthos mit einer Suppenschüssel aus der Küche. Er hat die beiden belauscht und möchte seiner Kollegin entgegenkommen, die dankend die Schüssel annimmt und die Bestellung zu jenem Tisch bringt. Vorsichtig stellt sie es vor ihm ab: „Hier, bitteschön.", und wischt aufgeregt ihre feuchten Hände an der Schürze ab. Doch ehe sie wieder in die Küche verschwinden will, zündet sie ihm an seinem Platz eine Kerze an.

Der Zwerg betrachtet die junge Dame, die keine 3 Fuß in die Höhe ragt und mit der kleinen Flamme zum Docht der Kerze schwenkt. Verwirrt neigt er den Kopf und fragt: „Kennen wir uns?". Ganz erschrocken schaut sie ihn an und pustet hastig das Streichholz aus: „Ich wüsste nicht woher.". Gefesselt von seinen Augen, wild wie das schäumende Meer, bleibt sie vor seinem Tisch stehen und versucht sich an das vertraute Gesicht zu erinnern. Jedoch vermag ihr kein Name dazu einfallen und sie meint: „Entschuldigen Sie mich.". Schnell wandert Margaret mit gesenktem Kopf zurück in die Küche, sie spürt wie die Hitze in ihr Gesicht steigt, während ihr Chef ein strenges Auge auf sie wirft. Mittlerweile weiß die Bedienstete, dass sie den Gast kennt. Nur woher? Ganz verdutzt stellt sie sich an die Spüle und widmet sich dem Abwasch des Geschirrs.

Nachdem auch das getan ist, schleicht sich Margaret hinaus und gesellt sich zu Barthos. Der Sohn des Wirts füllt gerade einen Krug mit frisch gezapftem Bier und stellt ihn auf den Tresen zu einem besoffenen Besucher, der bereits den Kopf hängen lässt. Schließlich fragt Barthos: „Kennst du den Herrn?". Mit Blick auf den Zwergen entgegnet sie harsch: „Nein.". Sie ist bisher noch nicht vielen Zwergen begegnet und hat bis heute keinen einzigen bedient. Von den kleingeratenen Bergleuten hat sie das meiste nur aus Erzählungen erfahren. Margaret flüstert: „Was ihn wohl nach Bree verschlagen hat.", „Keine Ahnung.".

Nach einer Weile hebt der Zwerg die Hand, sofort begibt sich die Bedienung zu ihm und nimmt seinen Teller zur Hand: „Kann ich Ihnen sonst noch was bringen?", „Nein. Danke.", und für einen Augenblick huscht ein kurzes Lächeln über seine schmalen Lippen. Doch ehe sie vor seinen Augen verschwindet, beansprucht er ein weiteres Mal ihre Aufmerksamkeit: „Mich lässt das Gefühl nicht los, dass wir uns bereits begegnet sind.", „Tut mir leid, mein Herr. Sie müssen mich mit jemanden verwechseln.", lächelt Margaret peinlich berührt.

Doch die Freude verfliegt förmlich aus ihren Augen, als ihr auf einmal alles einfällt. Und damit ist sie nicht die einzige. Der Zwerg meint: „Ich weiß es wieder, Eure Stimme kam mir bekannt vor. Ihr seid letztens vor mir davongerannt, als ich Euch nach dem Weg gefragt habe". Margaret wird ganz bang ums Herz, wenn sie sich an diesen Moment zurückentsinnt. Betroffen blickt sie zu Boden, versucht ihre Scham vor ihm zu verstecken und gibt kleinlaut bei: „Stimmt...".

Schon ruft der Wirt nach ihr. Aber Margaret ignoriert seine Stimme, betrachtet den Zwergen, der den Krug zur Hand nimmt und den Rest des Inhalts leertrinkt, ehe er sich von dem Stuhl erhebt und seinen Umhang überwirft. Aus seinen Taschen kramt er ein Säckchen, zieht goldene Münzen heraus und legt sie auf den Tisch. Entsetzt haucht Margaret: „Das ist viel zu viel!", „Das passt so. Den Rest nehmt Ihr für eine Bleibe, damit Ihr nicht in der Nacht nach Hause müsst.".

Schließlich nimmt er das Schwert zur Hand, stellt sich vor die Bedienung und meint zum Abschied: „Gute Nacht, Miss Margaret.". Mittlerweile kennt er auch ihren Namen, nachdem Herr Butterblume immer wieder nach ihr gerufen hat. Mit ihren Augen verfolgt sie, wie der Zwerg beim Hinausgehen dem Wirt ein Nicken schenkt und das Gasthaus verlässt. Sie bemerkt erst jetzt, wie ihre Hände zittern, nimmt eilig den Krug in die Hand und will in die Küche rennen. Doch ihr Chef wiederholt etliche Male ihren Namen, sie kommt zum Stehen und starrt ihn verängstigt an. Herr Butterblume fragt: „Wer war das?".

Aber Margaret bringt kein anständiges Wort heraus. Von allen Dingen, die ihr bisher widerfahren sind, ist das mit Abstand die unheimlichste Begegnung ihres jungen Lebens gewesen. Sie zuckt die Schultern und antwortet angespannt: „Ich weiß es nicht.". Beunruhigt schleppt sie sich in die Küche, stellt den Teller und den Krug ab und bleibt erneut am Fass Wasser stehen. Sie stützt sich vom Rand ab und blickt in das verzerrte Spiegelbild.

Lange hat sie sich nicht mehr derartig geschämt, dass sie in Grund und Boden versinken möchte. Wie eine Irre ist sie vor diesem Zwerg davongerannt, der sie lediglich nach dem Weg gefragt hat und sich um ihr Wohlbefinden erkundigt hat. Aber Margaret ist mit gezücktem Messer vor ihm gestanden und hat schließlich die Flucht ergriffen. Ganz durchfahren taucht sie ihr Gesicht in das eiskalte Wasser. Was für ein Tag.

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