Kapitel 14: Schwesternehrenwort

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Ohne sich von Gandalf oder den restlichen Zwergen verabschiedet zu haben, verlassen beide in Windeseile Beutelsend. Die Tür fällt laut ins Schloss, ein wohltuendes Geräusch für Margarets Ohren, die keinen Blick zurück auf den chaotischen Abend wirft. Während sie den Weg hinab nach Wasserau gehen, brauen sich dunkle Wolken über ihre Köpfe zusammen, was Margaret mit Besorgnis verfolgt und ihre Füße in die Hand nimmt.

Atemlos fragt sie ihre Schwester: „Hat dir der Abend gefallen?", um die angespannte Stille zwischen ihnen zu brechen. In Wirklichkeit interessiert es sie gar nicht, sie wollte lediglich die Stimmung etwas auflockern, aber Olivia, die an einem Abend mehr erlebt hat als in einem ganzen Jahr, fühlt sich dazu ermutigt von ihren Begegnungen zu erzählen und das so ausschmückend wie möglich. Nur leider hätte Margaret klar sein müssen, dass Olivia nicht mehr aufhören kann, wenn sie einmal anfängt. Die Wörter sprudeln wie in einem Wasserfall regelrecht aus ihr heraus, in hohen Tönen spricht sie von den Zwergen, insbesondere von Ori, der am Schluss an ihrer Seite saß.

Wie sehr sich Margaret im Moment verflucht, ihre Schwester zu begleiten. Immerhin hat es Olivia in der Finsternis hierher geschafft, dann würde sie bestimmt wieder nach Hause finden. Nur als große Schwester will sie auf Nummer sichergehen und nichts dem Zufall überlassen. Mit dem Satz: „Ich glaube, ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so nett ist.", findet ihr Redeschwall endlich ein Ende. Margaret, die nur beiläufig ihren Erzählungen gefolgt ist, meint unberührt: „Was du nicht sagst.", denn sie hat an diesem Abend einen ganz anderen Eindruck von den Zwergen gewonnen. Ihr Verhalten wirft ein schlechtes Licht auf dieses eigenbrötlerische Volk, das sie mehr denn je verachtet.

Nur Olivia, die völlig gefangen in ihrer Blase steckt, trällert: „Zu schade, dass Herr Beutlin die Zwerge nicht begleiten will. Ich an seiner Stelle hätte mich darum gerissen, einen echten Drachen zu sehen.". Langsam kommt Margaret ins Stocken, bleibt auf der Stelle stehen und fragt empört: „Ein Drache?!", sie glaubt sich verhört zu haben, „Die gibt's doch nur in Märchen!". Währenddessen breitet sich ein spöttisches Grinsen auf dem jungen, rotbäckigen Gesicht von Olivia aus: „Ja, ein großer, feuerspuckender Drache. Haben sie dir denn nichts von ihrem Abenteuer erzählt?".

Peinlich berührt senkt die Ältere den Kopf und schweigt. Nein, in dem ganzen Durcheinander hat sie nicht viel von den Zwergen erfahren, wie denn auch? Als Haushälterin hat sie die ungeladene Gesellschaft versorgen müssen, da ist nicht viel Zeit für Fragen geblieben. Sie weiß lediglich von Bilbo, dass man ihn auf ein Abenteuer mitnehmen will, aber das ist es auch schon.

Ein gefundenes Fressen für Olivia, die erfreut in die Hände klatscht und lacht: „Na, sowas! Unsere Maggie weiß einmal nicht über alles Bescheid! Dass ich das noch erlebe!", aber von ihren haltlosen Aussagen lässt sich Margaret nicht beirren, sie kommt ihrer Schwester näher und fragt gefährlich leise: „Was haben sie dir von ihrem Vorhaben erzählt?".

Ihre Mundwinkel fallen schlagartig hinab, der Schreck steht ihr ins Gesicht geschrieben: „Nichts.", und sie geht schnurstracks an ihr vorbei. Von einer solch einfältigen Antwort lässt sich Margaret nicht abspeisen und rennt ihr hinterher: „Du kannst mir nichts vormachen. Sag mir, was führen die Zwerge im Schilde?", „Ich kann es dir nicht sagen.", meint Olivia fast schon verzweifelt, „Ich hab es Ori versprochen. Versprochen ist versprochen und...", „...und wird nicht gebrochen.", beendet Margaret ihren Satz und schüttelt entnervt den Kopf. Das ist das Sprichwort ihrer Mutter gewesen, das sie immer in ihren Vorträgen erwähnt hat, wenn sie wütend auf ihre Kinder gewesen ist. Dennoch kann die Ältere es nicht verstehen: „Seit wann ist dir ein dahergelaufener Zwerg wichtiger als deine eigene Familie? Ich bin deine Schwester, schon vergessen?".

Natürlich hat Olivia das nicht vergessen, rollt entnervt ihre Augen und seufzt: „Seit wann bist du so nervig?", eigentlich hat sie Ori ein Versprechen gegeben. Ein Versprechen, niemanden etwas davon zu erzählen. Nur Margaret ist ihre Schwester, sie kann sie nicht anlügen, besonders nicht, wenn diese weichherzigen Augen sie ansehen und ihre warme Stimme wispert: „Ich verspreche dir, niemand wird davon etwas erfahren. Schwesternehrenwort.".

Olivia kann nicht länger ihren Versuchen standhalten, wischt sich über das Gesicht und meint: „Ori wird mich danach nie wieder ansehen können... na, schön. Die Zwerge kommen aus den blauen Bergen und wollen ihre Heimat, den Einsamen Berg, zurückerobern. Aber das ist streng geheim, niemand von außerhalb darf davon etwas erfahren, klar?". Aufmerksam lauscht Margaret ihren Worten: „Was hat ein Drache damit zu tun?", „Genau das ist das Problem. Einst kam ein großer Feuerdrache namens Smaug und vertrieb die Zwerge aus ihrer Heimat. Seither lebt Smaug in dem Einsamen Berg und bewacht den großen Zwergenschatz, unter dem sich das Königsjuwel befindet, Ori nannte ihn den Arkenstein. Diesen Edelstein brauchen sie, um die sieben Zwergenkönigreiche zu vereinigen und Smaug zu bekämpfen. Nur um den Arkenstein aus dem Erebor zu bergen benötigen sie einen Meisterdieb.", „Und dafür haben sie Bilbo Beutlin ausgesucht.", haucht Margaret ungläubig.

Noch nie hat sie etwas von dieser Geschichte gehört und ist umso entsetzter, dass man für diese Aufgabe einen Hobbit auserkoren hat – einen Hobbit namens Bilbo Beutlin. Aber warum ist ihre Wahl ausgerechnet auf den ehrenhaften Herrn Beutlin gefallen? Dieser Gedanke will sie nicht in Ruhe lassen.

„Zum Glück ist er schlau genug und hat abgelehnt.", sagt die Ältere, „Ein Hobbit hat in der weiten Welt nichts verloren. Er wäre verrückt, würde er sich auf ein solches Abenteuer begeben.". Während sie das von sich gibt, entdeckt sie hinter dem Bühl den Familienhof. Kein Licht brennt in den runden Fenstern des alten Hauses mit der morschen Schindelverkleidung, alle schlafen bereits, wie es sich gehört, und Margaret kann es kaum erwarten, sich ebenfalls ins Bett zu werfen.

Nur Olivia kann ihre vorherige Aussage nicht stehen lassen, sie hat eine völlig andere Meinung dazu: „Vielleicht ist Herr Beutlin nicht für diese Aufgabe gemacht, aber die Zwerge brauchen noch immer einen Meisterdieb.", woraufhin Margaret nur den Kopf schüttelt. Hier im Auenland werden sie nicht nach einem Meisterdieb fündig, denn kein Hobbit ist so lebensmüde, dass er 13 Zwerge und einen Zauberer auf ein Abenteuer begleitet, wirklich niemandem ist Gold mehr wert als das eigene Leben.

Olivia führt ihre Gedanken laut aus: „Für diese Aufgabe muss man viele Eigenschaften mitbringen. Man muss flink und wendig sein, nicht zu vergessen mutig genug, um sich an einem Drachen vorbeizuschleichen und diesen Arkenstein zu finden, und...", „Nein! Komm ja nicht auf dumme Ideen!", unterbricht Margaret ihre jüngere Schwester, „Du wirst dich auf gar keinen Fall in Gefahr bringen! Deine Abenteuer bleiben schön in deinen kleinen Bücher, wo...", „Ich rede nicht von mir.", wirft Olivia ein, „Ich rede von dir.".

Beinahe wäre Margaret über ihre eigenen Füße gestolpert, kommt auf der Stelle zum Stehen: „Du spinnst.". Noch nie hat Olivia solchen Stuss von sich gegeben, die ganz aufgeregt über diese Vorstellung sinniert und nach ihrer Hand greift: „Welcher Halbling eignet sich besser für diese Aufgabe als du? Erinnerst du dich noch, als du dem alten Herrn Stolzfuß die Taschenuhr abgeknöpft hast? Und sie beim Hehler für bare Münzen verkaufen wolltest?", „Das ist lange her, Olivia, ich war ein Kind. Ich bin garantiert kein Meisterdieb. Und erst recht keine Abenteuererin.", nur stößt sie mit ihren einsichtigen Worten auf taube Ohren.

Olivia versucht ihre Schwester um jeden Preis vom Gegenteil zu überzeugen: „Ach, ja? Jedes Wochenende bist du tief in der Nacht nach Bree gelaufen. Das zeigt, wie mutig du bist. Du hast, nachdem was mit Mama passiert ist, so viel in Kauf genommen, damit du uns ein besseres Leben bieten kannst. Und jetzt schreckst du vor einer solchen Aufgabe zurück? Während da draußen ein Schatz auf dich wartet? Damit können wir endlich ein Leben ohne Sorgen führen! Hast du das nicht schon immer gewollt?".

„Es reicht!", erhebt Margaret ihre Stimme und erschreckt die schlafenden Vögel, die ihre Nester in den Baumkronen verlassen. Olivia weicht einige Schritte zurück, als ihrer Schwester der Kragen platzt: „Lieber wasche ich bis an mein Lebensende Teller ab und fege den Boden von Herrn Beutlin, wenn es sein muss! Aber für kein Gold dieser Welt werde ich mein Leben aufs Spiel setzen!".

Ohne weiter darauf einzugehen, marschiert sie schnellen Schrittes zum Hof und erreichen endlich die Einfahrt. Margaret geht zur Tür, sucht in ihren angenähten Rocktaschen nach dem Schlüssel und schließt für einen kurzen Moment ihre Augen. Dieser Nachhauseweg hat sie ihre letzte Kraft gekostet. Sie will einfach nur tot ins Bett fallen und die Geschehnisse hinter sich lassen. Was in Beutelsend geschehen ist, bleibt auch in Beutelsend.

Aber als sie den Schlüssel nicht findet, tritt Olivia zur Schwelle und fragt: „Ist das also der Grund?", während sie den Haustürschlüssel in das Loch steckt. Margaret stützt sich an der Hausmauer ab und runzelt die Stirn: „Was?", „Bilbo.", flüstert sie mit einem verlegenen Grinsen auf den Lippen, „Willst du wegen ihm hier bleiben?".

Obwohl Olivia die Tür aufgesperrt hat, bleibt Margaret wie angewurzelt stehen und antwortet mit fassungslosem Schweigen. Keiner der beiden wagt es das Haus zu betreten, stattdessen spinnt Olivia unaufhaltsam und ohne Nachsicht diese Erklärung zusammen: „Ich hab dich lange nicht mehr so besorgt gesehen. Als er am Boden lag, hast du dich regelrecht auf ihn gestürzt. Ach, und wie er dich angesehen hat... er scheint dich wirklich zu mögen. Du kannst mir vertrauen, ich werde niemanden etwas verraten. Hat er...", „Was fällt dir eigentlich ein?!".

Das frische, pfirsichfarbene Gesicht von Olivia verfärbt sich kreidebleich. Noch nie hat sie ihre Schwester in dieser Verfassung erlebt, als Margaret aus der Haut fährt und schreit: „Ich hab alles für euch getan, alles! Und niemand, nicht einmal du, schätzt es wert, was ich tagtäglich mach! Glaubst du, ich bin zum Spaß in Beutelsend? Glaubst du, ich mach mir eine schöne Zeit mit Herrn Beutlin?! Ich werfe mich um seinen Hals, wie es die Leute gerne hätten!?!", „Ich...", „Nein! Kein Wort mehr! Ich will nichts mehr von dir hören!".

Seit ihrem Auszug hat sich alles verändert. Olivia hat es bisher nie gewagt, ihre Schwester in Frage zu stellen, da sie weiß, wie viel sie auf sich nimmt, um die Familie über Wasser zu halten. Doch auch sie hat angefangen zu zweifeln. Sie hat sich in ihren Annahmen bestätigt gefühlt, als sie den vertrauten Umgang zwischen ihrer älteren Schwester und dem alleinstehenden Herrn Beutlin gesehen hat, und wollte lediglich eine Erklärung aus ihrem Mund hören. Doch damit war ihr nicht bewusst, was sie anstellen könne.

Ja, sie bereut ihr zügelloses Mundwerk und hindert ihre Schwester daran hinein zu gehen: „Es tut mir leid. Wirklich. Ich wollte das nicht.". Nur im Moment kann sie nichts besänftigen, dafür ist sie viel zu dünnhäutig. Schließlich öffnet sich aus ein Fenster und eine verschlafene Rosalinde lugt vom Dachstuhl heraus: „Was ist das für ein Lärm?".

Sie wirft einen Blick nach unten und entdeckt unerwarteterweise ihre ältere Schwester an der Türschwelle: „Margaret?", „Ist es in Ordnung, wenn ich für die Nacht hier bleibe?", fragt sie, woraufhin Rosalinde nickt: „Ich komm runter.". Das Fenster schließt sich, sie wirft sich eine Weste über ihr weißes Nachtkleid und will ihren Schwestern entgegenkommen. Als sie gerade die die Treppen hinabschreitet, stürmt Olivia mit einem tränenbenetzten Gesicht an ihr vorbei und verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Anscheinend hat Margaret wieder einmal für eine Menge Furore gesorgt.

Jene steht unten im Gang, nimmt ihren Mantel ab und bewegt sich ins Badezimmer, wo sie vorm Waschbecken zum Stehen kommt. Ein Blick in den Spiegel reicht, um ihr zu sagen, wie hässlich sie ist. Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche. Ihre widerspenstigen Locken haben sich aus dem provisorischen Zopf gelöst und hängen wild von ihren Kopf herab. Was die Zwerge bei diesem Auftreten von ihr gehalten haben?

Während sie langsam das Band von ihren rötlichen Haaren zieht, schreitet Rosalinde aufgebracht herein: „Was zum Henker ist passiert?", „Unsere Schwester ist passiert.", entgegnet Margaret schroff und dreht den Wasserhahn auf, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie wirft einen Blick in den Spiegel und entdeckt die abscheulichen Ringe unter ihren Augen. Nach diesen Erlebnissen ist sie ein einziges Wrack und ähnelt immer mehr ihrem Vater, der weiß grad wo steckt.

Rosalinde hält sich zurück, als sie mit Besorgnis erkennt, wie ausgelaugt ihre Schwester über dem Waschbecken hängt. Sanft streichelt sie über ihren Oberarm und meint versöhnlich: „Leg dich erst einmal hin. Wir können morgen früh noch...", „Ich kann nicht.", fährt sie ihr ins Wort, „Ich kann mich jetzt nicht schlafen legen.". Ihre kalten Hände zittern unaufhörlich, noch nie hat man sie so sehr beansprucht wie an diesem heutigen Abend und ihr die letzten Nerven geraubt, sodass sie nicht einmal jetzt, wo sie ihr Zuhause erreicht hat, zur Ruhe kommen kann.

Langsam bewegt sich Margaret ins Gesellschaftszimmer, gefolgt von Rosalinde, die besorgt ihrer Schwester hinterher rennt: „Wieso bist du hier? Gab es Streit mit Herrn Beutlin?". Erschöpft lässt sich die Älteste im Sessel fallen, nimmt ein Kissen in die Hand und legt es sich in den Nacken. Während sie ihre Füße auf den niedrigen Beistelltisch hochlegt, antwortet sie: „Nein, nicht im Geringsten. Olivia ist in Beutelsend aufgetaucht, weil sie nach Papa gesucht hat.". Den Rest der Geschichte erspart sie Rosalinde, denn sie hat keine Lust ihr auch noch zu erklären, was heute Abend in Beutelsend vorgefallen ist.

Entsetzt nimmt sie gegenüber von ihr Platz und faltet aufgeregt ihre Hände zusammen: „Er ist schon seit fünf Tagen nicht mehr nach Hause gekommen... glaubst du, ihm ist etwas zugestoßen?", darauf kann Margaret nur verächtlich lachen: „Und wenn schon. Der soll da bleiben, wo der Pfeffer wächst.". Für gewöhnlich vermeidet sie es über ihren Vater zu sprechen, denn es fällt ihr schwer, nette Worte für ihn zu finden. Wäre er nicht verschwunden, hätte Olivia sich niemals nachts nach draußen gewagt. Und Margaret würde jetzt hier nicht sitzen und Rosalindes nervtötender Gesellschaft ausharren.

„Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es besser, wenn er nicht nach Hause kommt. Er lässt sich sowieso nur hier blicken, wenn ihm die Pfennige ausgehen. Ach, wenn wir doch nur mehr zur Verfügung hätten... dann wäre alles viel leichter.", wobei ein Hauch von Trübsal mitschwingt. Jedes seiner Kinder wünscht sich, dass die Familie nicht auf ewig in dieser misslichen Lage stecken bleibt, obwohl alle versuchen das Beste aus dieser Situation zu machen.

Nur Margaret ist überhaupt nicht bewusst, wie sehr ihre Geschwister seit ihrem Auszug unter der enormen Verantwortung der Lebenserhaltung leiden. Gewöhnliche Sorgen des Alltags werden zu einer Herausforderung und treiben Rosalinde unschöne Falten auf die Stirn, denn es ist nicht immer sicher, dass genügend Essen auf dem Tisch steht, was sich mittlerweile auch an ihrem ausgemergelten Körper bemerkbar macht.

Rosalinde hat stark abgenommen, was Margaret erst jetzt im Gesellschaftszimmer auffällt, als sie ihre dünnen Arme um ein Federkissen schlingt und an ihre fehlende Brust drücken. Vielleicht hat sie die Folgen ihrer Anstellung unterschätzt. Die ganze Verantwortung ist von einem Tag auf den anderen auf Rosalinde übergegangen, die sich zuvor lediglich um den Acker gekümmert hat und bisher keine Gedanken darum gemacht hat, wie man einen Haufen Halblinge satt kriegt.

Margaret lehnt sich zurück und spricht offen zu ihrer Schwester: „Niemand zwingt dich, hier zu bleiben, Rosa. Du musst das alles hier nicht über dich ergehen lassen.", „Was erzählst du da?", „Ich mein ja nur. Du wolltest schon immer von hier weg, einen tollen Mann finden, Kinder kriegen... Deinen Traum leben. Vielleicht ist es an der Zeit, dass du deinen Traum in die Wirklichkeit umsetzt.". Sie weiß gar nicht, wie sie auf diesen Vorschlag gekommen ist. Vieles hat sich verändert, für jedes Familienmitglied, nur wahrscheinlich hat es Rosalinde am meisten getroffen.

Nur sie kann und will nicht verstehen, worauf ihre Schwester hinauswill. Sie springt von ihrem Platz auf, rennt auf und ab und zetert: „Glaubst du, ich bin so selbstsüchtig und lass meine Geschwister im Stich? Sie brauchen mich! Wer sorgt sonst dafür, dass jeden Tag etwas auf dem Tisch steht? Du etwa!? Unsere Margaret, die in den Haushalt des reichen Herrn Beutlin eingezogen ist, ohne das mit uns abzusprechen?!? Erzähl mir nicht, dass du dich um uns kümmerst! Du machst dir ein schönes Leben in Beutelsend, während wir hier uns zu Tode schuften! Du hast ja keine Ahnung, was hier passiert! Und im Gegensatz zu dir werde ich meine Familie nicht im Stich lassen!".

Jene hört schon lange nicht mehr zu, schließt ihre Augen und grinst, was Rosalinde noch mehr auf die Palme bringt. Nachdem sie aufgebracht das Gesellschaftszimmer verlässt und die Treppen zum Dachstuhl emporsteigt, lässt Margaret ihren Gefühlen freien Lauf. Stille Tränen rinnen in Strömen über ihr glühendes Gesicht, aber sie macht sich keinen Hehl daraus, sie wegzuwischen. Rosalinde hat ihr für heute den Rest gegeben. Diese Worte nagen an ihr, wie ein elendiger Juckreiz, der sie nicht mehr loslassen will.

Fürchterlich weint sie über den Bruch mit ihrer Familie, den sie all die Wochen vorhersehen hätte können, aber es aus Angst verdrängt hat und sich stattdessen um ihre eigenen Probleme gekümmert hat. Rosa hat Recht – Sie hat ihre Familie im Stich gelassen. Ihre Geschwister hassen sie, es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihr Daisy auch aus dem Weg geht und Theobald ihr nicht mehr mit offenen Armen entgegenrennt. Sie ist eine abscheuliche Schwester.

Vorsichtig öffnet sie ihre brennenden Augen, legt den Kopf in den Nacken und starrt in die Luft. Etwas, was Rosalinde gesagt hat, beschäftigt sie – der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit, nach mehr finanziellen Freiheiten, nach mehr Besitz. Keiner von ihnen will jeden Tag darum bangen, ob genügend Essen in der Vorratskammer vorhanden ist. Während sie so dasitzt und gegen die Decke stiert, kommt ihr eine verrückte Idee in den Sinn. Eine Idee, die bereits Olivia vorgeschlagen hat. Eine Idee, die sie vorher noch für unmöglich gehalten. Nur für diese Idee müsse sie alles, was ihr lieb ist, im Auenland zurücklassen.

Die Rede ist von einem Abenteuer.

Die Zwerge sind noch immer auf der Suche nach einem Meisterdieb, den sie für seine Dienste stattlich entlohnen werden. Niemand von ihnen hat festgelegt, dass diese Aufgabe nicht auch eine Frau übernehmen kann. Was spricht dagegen? Für einen Moment malt sie sich in ihrem Kopf aus, was sie auf einer solchen Reise erwarten wird, und kann darüber nur den Kopf schütteln, denn erst jetzt fällt ihr ein, wie blödsinnig diese Idee eigentlich ist.

Dort im Einsamen Berg schlummert ein alter Feuerdrache, der nicht gerade dazu bereit sein wird, ihr freiwillig den Arkenstein zu übergeben. Nicht zu vergessen die restlichen Gefahren, die ihr auf dem Weg widerfahren können. Ja, die Wahrscheinlichkeit ist nicht gerade gering, dass sie das nicht überleben wird. Ist sie wirklich dieser Aufgabe als Meisterdiebin gewachsen?

Die Antwort lautet: Nein. Niemals werden die Zwerge zulassen, dass Margaret sie auf ihrer Reise begleitet. Dazu müssen sie schon wirklich verzweifelt sein, um eine Frau auf ihr Abenteuer mitzunehmen. Zwar kann sie weite Strecken zurücklegen, aber sie ist keine Abenteurerin und besitzt keinerlei Erfahrung im Umgang mit Waffen. Was würden die Leute nur darüber sagen, wenn sie mitkriegen, dass sich Margaret Braun mit 13 Zwergen und einem Zauberer auf den Weg zum Einsamen Berg gemacht hat? Man würde sie wohl endgültig für verrückt halten. Und mit diesem Gedanken schläft sie im Wohnzimmer ein.

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