Es gongte zum Unterrichtsbeginn, doch Nellio schlenderte durch die Gänge, als hätte er alle Zeit der Welt. Durch seine Kopfhörer lief lautstark Come as you are von Nirvana, sein Lieblingslied, und er stellte die Lautstärke noch weiter hoch, pfiff zu dem Bass mit und fuhr sich mit einer flüssigen Bewegung durch die kurzen, braunen Haare.
In seinem Rausch hatte er gar nicht bemerkt, dass ihm jemand entgegenkam und plötzlich wurde er von der Seite angerempelt. Nellio verlor kurz das Gleichgewicht, stolperte ein paar Schritte zurück und plötzlich drehte sich alles. Als würde es das Schwindelgefühl mindern, hielt er sich den Kopf und zischte kurz. Er hätte sich doch nicht den großen Joint noch vor der Schule reinblasen sollen.
"Hey, ist alles okay?", fragte ihn eine bekannte, tiefe Stimme, gedämpft durch die Musik seiner Kopfhörer. Hoffentlich bildete er sich das nur ein. Es konnte doch nicht...
Nellio zog an den Kabeln seiner Kopfhörer, damit diese aus seinen Ohren raussprangen, sah auf und direkt in zwei dunkelblaue Augen. Fionn fucking Brown.
"Heilige Scheiße, ich wusste gar nicht, dass du noch die Fähigkeit besitzt, mich zu sehen", nuschelte Nellio und inspizierte den vor sich genau. Wirre, kurze, dunkelblonde Haare, weißes T-Shirt, schwarze Hose, weinrote Vans. Klassisch aber doch wirkte es so, als hätte es noch nie zuvor jemand getragen. Elegant aber doch lässig. Fionn hatte einen gewissen Wiedererkennungswert. Kein Wunder, dass so viele Mädchen hinter ihm her waren. Der große, starke Team Kapitän des Basketballteams. Der einfühlsame Typ, der so gut mit den Grundschülern konnte. Immer charmant und höflich zu allen, sagte immer genau das Richtige. Er war wie der verdammte Prinz Charming höchstpersönlich.
Fionn zog seine perfekten Augenbrauen ein wenig zusammen und sah Nellio misstrauisch an. "Bist du high?", fragte er geraderaus.
Nellio überlegte kurz, welche Ausrede er benutzen sollte, zeigte mit den Zeigefinger auf den sich gegenüber, bevor er "Ja", antwortete.
Überrascht von seiner eigenen Antwort verzog er verwirrt das Gesicht. Das war nicht das, was er eigentlich sagen wollte.
Fionn stützte mit seinen Fingerspitzen seine Stirn. "Oh Mann", brummte er leicht genervt. Man konnte Fionn leise vor sich hin fluchen hören, dann sah es kurz so aus, als würde er irgendwelche Möglichkeiten abwägen, bevor er seufzte und wieder zu Nellio aufsah.
"So kann ich dich nicht zu dem Ötti lassen", meinte Fionn. "Komm, ich regle das für dich".
"Wow, mein Held", sagte Nellio sarkastisch, lies sich aber nur mit einem leise protestierenden Brummen von Fionn mitziehen.
"Warum ignorierst du mich nicht einfach, wie die letzten vier Jahre? Darin bist du doch Weltklasse", fuhr Nellio ihn merklich high an.
Fionn, der ihn am Ärmel hinter sich herzog, zog wieder die Augenbrauen zusammen und warf einen kurzen Blick hinter sich, zu Nellio. "Du hast mich doch auch ignoriert", verteidigte Fionn sich.
Humorlos lachte der angesprochene auf. "Du hast doch ständig unsere Treffen abgesagt, hattest keine Zeit mehr für mich und hast nichtmehr auf meine Nachrichten und Anrufe reagiert".
Ja, da hatte es jetzt Fionn und dagegen sagen konnte er nichts mehr, denn es war wahr. Fionn hatte sich nichtmehr bei Nellio gemeldet, hatte ihn meist ignoriert und plötzlich hatte er neue Freunde und gehörte zu den Beliebten, während Nellio immer noch einer der komischen war.
Immer noch waren sie in diesen Schubladen, wurden einfach als beliebt und komisch abgestempelt, nur dass Nellio vor gut einem halben Jahr noch in die Kiffer Abteilung kam. Vor allem seitdem er seine eigene Cannabispflanze besaß. Uschi hatte er sie getauft, und Uschi trug wirklich fleißig viele Blätter.
Fionn klopfte an Nellios Klassenzimmer, öffnete die Tür nur so weit, dass man nur ihn selbst sehen konnte. "Hallo Herr Öttenburg", sagte er freundlich. "Mir ist Nellio auf dem Gang begegnet und es geht ihm nicht so gut".
Man hörte von drinnen die tiefe Stimme von Herr Öttenbrug, aber Nellio konnte nicht verstehen, was er sagte.
Fionn nickte, stimmte bei irgendwas zu und bedankte sich am Schluss, bevor er sich verabschiedete und die Tür wieder zumachte.
"Er schickt gleich jemanden, der auf dich aufpassen soll und mit dir an die frische Luft geht", erklärte Fionn.
"Wunderbar", ein Stich an Ironie war aus Nellios Stimme zu hören.
Fionn stöhnte leicht genervt und sah Nellio auch genauso genervt an. "Gott, seit wann bist du so stur, Nelli? Lass dir doch einfach von mir helfen".
Nellio verzog das Gesicht. "Ich hätte schon viel früher deine Hilfe gebrauchen können, aber du warst nicht da. Und nenn mich nicht Nelli, immerhin sind wir nicht befreundet. Nichtmehr".
Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit hätte Nellio niemals sowas gesagt, wenn er nicht high gewesen wäre. Er dachte nicht nach, was er sagte, wenn er nicht nüchtern war, was lustig sein konnte aber auch, in seltenen Fällen, sehr unpraktisch, wie jetzt.
Und das vermieste ihm gerade gehörig seinen Trip. Das und Fionn.
Apropos dieser Vollhorst sah Nellio gerade voll komisch an. Fast so, als würde ihm das zum nachdenken bringen, was Nellio gerade eben gesagt hatte. Vielleicht war es aber auch nur ein Teil von Uschi, der in Nellios Kopf herumgeisterte. Wer wusste das schon?
Aber eigentlich war es ihm egal. Fionn war ihm absolut egal. Jawoll, so war es! Immerhin war es doch total normal, darüber nachzudenken, wie es wohl wäre, wenn sie noch befreundet wären. Über Fionn und seine perfekten, beschissenen dunkelblonden Haare, diese verdammten, blauen Augen.
Scheiße, Nellio war wirklich sehr high. Oder?
Zum Glück hatte er nicht sehr viel Zeit zum Nachdenken, denn die Klassenzimmertür öffnete sich und ein kleines Mädchen mit Stupsnase trat heraus.
"Aliya", begrüßte Nelio sie noch voll in seinem Rausch. "Was geht?".
Aliya sah Nellio mit einem belustigten Gesichtsausdruck an und schüttelte nur den Kopf. Sie war das schon gewohnt.
"Geradeaus gehst du ganz sicher nicht mehr", antwortete sie, sah neben Nellio, erblickte Fionn und sah mit großen, überraschten Augen zurück zu Nellio. Ihr Blick sagte so gut wie alles und der indirekt angesprochene zuckte nur mit den Schultern.
"Ich ähm, geh dann Mal in meine Klasse", unterbrach Fionn die Situation, die für ihn ziemlich unangenehm gewesen sein musste.
"Okay", meinte Nellio, würdigte Fionn keines Blickes und winkte ihm von der Seite zu. "Bye, bye".
Aliya schien diese Situation für sehr komisch zu empfinden. Sie wippte auf die Zehenspitzen vor und ließ sich dann wieder auf die Fersen fallen, während sie an dem Saum des grünen Stoffs ihres Hidschabs spielte. Was sie immer machte, wenn um sie herum eine angespannte Stimmung war.
Als Fionn weg war, atmete sie die angehaltene Luft in einem Stoß aus. "Was war denn das?", fragte sie.
Nellio zuckte mit den Schultern. "Er ist in mich gerannt, hat gefragt, ob ich high bin und plötzlich hat er sich für mich verantwortlich gefühlt und mich angemault, weil ich ihn angemault habe".
Aliya nickte langsam. "Aha, so so". Sie musterte ihn und zog dabei die Augenbraue so hoch, wie immer.
"Hör auf mich so anzukucken", verlangte Nellio.
"Wie habe ich dich denn angekuckt?".
"So als würdest du irgendwas wissen, was ich nicht weiß".
Aliya war jetzt schon gute drei Jahre mit Nellio befreundet und hat ihn kennengelernt, als er an seinem größten Tiefpunkt war. Sie wusste einiges über diesen Jungen. Auch wusste sie, dass Nellio immer noch nicht darüber hinweg war, dass Fionn eines Tages einfach so beschlossen hatte Nellio komplett aus seinem Leben zu verbannen. Wer verstieß auch schon seinen besten Freund?
"Komm mit, wir gehen nach draußen, an die frische Luft und nüchtern dich wieder einigermaßen aus", bestimmte sie und legte von der Seite ihren Arm um Nellios Hüften. Auch Nellio schlang seinen Arm um ihre schmale Taille und so taumelten sie aus dem großen Schulgebäude.
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Come as you are (boyxboy)
RomantiekNellio und Fionn waren schon immer beste Freunde. Unzertrennlich wie Pech und Schwefel, doch vor vier Jahren hatte Fionn, von einem Tag auf den anderen, Nellio ignoriert und ihn nicht mehr beachtet. Aber jetzt müssen sie sich wieder miteinander aus...