EINUNDVIERZIG

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"Seid nett zu ihm", mahne ich meine Eltern noch einmal. Wir alle stehen im Esszimmer und warten auf Carlo. Sie nicken. Ich hoffe, dass sie es ernst meinen. Ich schaue auf die Uhr. Es würde gerade fehlen, wenn er beim ersten Mal zu spät käme. Das ist ja seine alte Macke. Aber, siehe da: zwei Minuten vor sechs klingelt es. Meine Mama bekommt rote Wangen. Sie liebt pünktliche Menschen. Innerlich grinse ich. Pluspunkt Nummer 1 für Carlo. Mama geht an die Tür und öffnet. Ein schüchterner Carlo steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor der Haustür. Er hat ein hellblaues Hemd an, darauf einen Blazer, Jeans, keine Cap, dafür aber ordentlich gekämmte Locken. Er weiß gar nicht, wie gut er darin aussieht.

"Hallo, Frau Gilles", sagt er schüchtern. Ach Gott, wie süß, er siezt meine Mama. Pluspunkt Nummer 2. Der Hundeblick von unten aus den Rehaugen macht dann Pluspunkt Nummer 3. Ich habe gewusst, dass es klappen würde. Wer mag meinen Carlo schon nicht!? Meine Mama schmilzt regelrecht dahin.

"Willkommen. Komm doch rein, Carlo." Zum Glück hat sie sich den Namen behalten und sagt nicht Cro. "Du darfst mich ruhig duzen, ich bin Vera."

Als er ihr ganz leicht die Hand schüttelt, und ein "Das ist sehr nett" murmelt, sehe ich, dass das nun schon Pluspunkt Nummer 4 ist. Mama wuselt ins Esszimmer, sie wirft mir Blicke zu, die sagen: Er ist genau der Schwiegersohn, den ich wollte. Ich muss mich beherrschen, um nicht selbstgefällig zu grinsen. In einem kleinen unbeobachteten Moment drückt mir Carlo ein keuschen Kuss auf die Schläfe, mein Herzschlag verschnellert sich wie von selbst. Während wir Mum ins Esszimmer folgen, wo schon für 4 Personen fast königlich gedeckt ist (ja, Mum übertreibt gerne), murmle ich Carlo leise zu, sodass nur er es hört: "Du kannst dich also auch benehmen?"

Er verkneift sich ein Lachen, knufft mich aber gespielt empört. "Natürlich. Tu ich doch immer." Ich lache leise. Mein Papa kommt gerade aus der Küche, und er schaut auf meine Mama. Er sieht die Lachfältchen, den schmachtenden Blick und weiß: Diese Schlacht ist schon verloren, bevor sie überhaupt begonnen hat. Ich sehe meiner Mama an: Sie würde Carlo am liebsten für immer an mich dranketten. Oder auch wahlweise in meinem Zimmer einmauern. Mein Papa kommt auf Carlo zu und schüttelt ihm herzlich die Hand.

"Hallo, Herr Gilles", sagt Carlo respektvoll. Und ein weiterer Pluspunkt. Der wievielte? Nummer 5?

"Du kannst mich ruhig Lukes nennen", sagt mein Papa. Ich stehe grinsend daneben. "Das Essen ist gleich fertig. Ich habe Schweinebraten mit Kartoffeln, Soße und Salat gemacht. Ich hoffe, du isst das, Carlo?", fragt Papa. Auch er scheint Carlos Charme zu erliegen. Wie ich. Wie Mama. Wie alle.

"Natürlich. Es schmeckt bestimmt lecker", sagt Carlo. Pluspunkt Nummer 6. Bald kann ich nicht mehr im Kopf mitzählen.

"Naja", rutscht es Mama heraus. "Mit den Toprrestaurants, in denen du schon warst, kann es bestimmt nicht mithalten."

Wir erstarren alle peinlich berührt. Es ist der Moment, als die klappernde Schublade namens "Cro" kurz geöffnet wird. Aber ich schließe sie schnell wieder. Mit einem ordentlichen Ruck, damit sie hoffentlich für den Rest des Abends zu bleibt.

"Mit Papas Essen kann niemand mithalten", sage ich schnell.

Carlo erwacht auch aus seiner Starre. "Da bin ich mir sicher", sagt er und lächelt.

Mama lacht nervös, wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und teilt uns hektisch unsere Plätze zu. Ich gegenüber Papa, neben mir Carlo. der sich unter dem immer noch schmachtenden Blick meiner Mutter ihr gegenüber setzt. Ich sehe seine Nervosität. Er ist ein wenig blasser als sonst und seine Finger klammern sich um die Stuhllehnen. Er macht sich echt Sorgen, dass sie ihn nicht mögen. Ha! Wenn er wüsste. Ich streiche ihm unter dem Tisch, geschützt vor den Blick meiner Eltern, beruhigend übers Knie. Er scheint nicht zu merken, wie sehr er sie schon in der Hand hat. Sie sind wie Wachs in seinen Händen.

Cro-You make my life completeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt