1. Türchen

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(Sherlocks POV)

Wir sitzen zu viert am Esstisch und essen Raclette. Ich kann Raclette nicht ausstehen und Weihnachten und die Gesellschaft meines Bruders auch nicht. Es dauert zu lange und die Portionen sind zu klein, es ist zu harmonisch und Mycroft zu unerträglich.
Aber weil Mrs Hudson alles eingekauft und John den ganzen Tag in der Küche gestanden und das Essen mit ihr vorbereitet hat, tue ich so, als würde es mir gefallen. Dabei nervt mich alles an diesem Abend. Der kleine Weihnachtsbaum am Fenster, den John so lange geschmückt hat, bis jeder einzelne Zweig geleuchtet und gefunkelt hat, die leise Musik im Hintergrund, die weihnachtliche Dekoration, die Mrs Hudson vor zwei Wochen in unserer Wohnung angebracht hat. Es ist Weihnachten und es ist schrecklich.

Das Einzige, was ich mir zu Weihnachten gewünscht habe, ist, dass es schnell wieder vorbei ist. Oder gar nicht erst anfängt. Oder dass ich irgendwann zu betrunken bin, um mich noch daran zu stören. Bisher ist nichts davon passiert. Stattdessen sitze ich neben John und habe den Abend schon zerstört, noch bevor er eigentlich begonnen hatte.
Ich habe dafür gesorgt, dass jeder schon vor dem Auspacken der Geschenke wusste, was sich in ihnen befindet, und auch dafür, dass der Braten in der Küche anbrennt. Für beides kann ich nichts. Ich habe lediglich etwas Abwechslung in den langweiligen Abend bringen wollen.

„Schmeckt es?", fragt Mrs Hudson und schaut mich an. Ich sehe von meinem leeren Pfännchen hoch und sie an und weiß ganz genau, was ich antworten sollte. Mycroft grinst süffisant.
„Ja", murmle ich. „Sehr."

Mycroft verzieht das Gesicht und ich trete ihn unter dem Tisch. Es ist kindisch und trägt vermutlich nur wenig zur weihnachtlichen Harmonie bei, aber das ist mir egal. John wirft mir einen mahnenden Blick zu und ich verkneife mir eine spöttische Bemerkung. Ich weiß, wie wichtig ihm dieses Fest ist. Weil es das erste ohne Mary ist. Sie ist noch da, irgendwie, auf jedem einzelnen Foto in unserer Wohnung. Und in jedem zweiten Satz, den John heute sagt.

Mich stört, dass es so ist. Und dann stört es mich, dass es mich stört. Weil ich nicht weiß, wieso es so ist. Und was ich damit anfangen soll. Und wie man mit jemanden umgeht, der an seinen Vorwürfen und dem Kummer erstickt. Mary ist nicht die Einzige, die an diesem Tag gestorben ist. Ich glaube, ein großer Teil von John ist es damals auch.

Und ich bin schuld daran, dass es so ist. Dass sie heute nicht mit uns an diesem Tisch sitzt und Johns Hand hält. Ich würde ihnen gegenübersitzen, ihnen dabei zusehen, wie sie sich berühren und küssen und mich daran stören, dass mir dieser Anblick nicht gefällt. Aber ich würde schweigen und es für mich behalten, weil das nichts ist, was man jemanden sagt, der in einer Beziehung ist. Noch dazu mit einer Frau. Einer Frau, die hübsch und klug und witzig ist und die alles hat, was ich nicht habe.
Aber Mary ist heute nicht hier. Heute sitze ich neben John - und halte nicht seine Hand.

Dennoch ist seitdem etwas anders zwischen uns. Etwas ist passiert, obwohl eigentlich nichts passiert ist. John ist wieder eingezogen und damit auch die Bilder von Mary und ihm auf dem Kaminsims zurück. Wir sind uns nähergekommen. Nicht körperlich, aber das, was mit dem Eintritt von Mary in unser Leben verloren gegangen ist, ist wieder da. Es ist nicht mehr als ein Gefühl, nur ein leises Knistern und Surren, das bei jedem Blick zwischen uns liegt. Und jedes Mal frage ich mich, ob es John genauso geht.

-

Die Musik ist ausgegangen - und Mycroft nach Hause. Nur Mrs Hudson ist noch da. John sitzt in seinem Sessel, die Beine an sich herangezogen und ein zerknittertes Blatt Papier in der Hand. Die Schrift darauf ist sauber und geschwungen. Es ist Marys.
Ich beobachte John verstohlen dabei, wie er es liest. Immer und immer wieder. Und wie sich sein Gesichtsausdruck dabei verändert und sein Blick eine Schwere annimmt, die etwas tief in mir zum Brennen bringt. Ich will etwas sagen, zu ihm gehen, ihn umarmen, und tue doch nichts.

Johnlock Adventskalender || LemonleliWo Geschichten leben. Entdecke jetzt