7. Türchen

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Achtung: In diesem Kapitel wird das Thema Selbstverletzung, der Missbrauch von Drogen und Suizid angeschnitten. Nicht detailliert beschrieben, aber dennoch thematisiert.


(Sherlocks POV)

Niemand weiß, wer ich wirklich bin. Niemand weiß, wie viele Male ich in meinem Zimmer schon geweint habe, allein und verlassen. Niemand weiß wie oft ich die Hoffnung verloren habe und wie oft ich fallen gelassen worden bin. Niemand weiß, wie viele Male ich schon davor war, es einfach zu beenden, und es nur nicht getan habe, weil ich glaubte, mich würde noch jemand brauchen. Niemand weiß, welche Gedanken ich habe, wenn ich traurig bin, wie schrecklich sie wirklich sind.
Niemand. Kennt. Mich.
John hat das mal getan.

Und jetzt steht er dort, mit Mary in diesem großen Saal voller Menschen, und schaut nicht einmal zurück. Er hat nur Augen für sie. Für sie in diesem verdammten weißen Kleid mit dem verdammten verliebten Lächeln im Gesicht. Bei ihrem Anblick habe ich das Gefühl, innerlich zu zerbrechen. Dabei bin ich das schon längst. Zerbrochen und seit Monaten nicht mehr ich selbst. Und niemand hat es bemerkt. Ich bin allein, weil es selbstverständlich zu sein scheint, dass jemand wie ich, jemand wie Sherlock Holmes, einsam ist.

Ich weiß, dass John mich nicht liebt. Dass er mich schon vor einer ganzen Weile vergessen hat. Aber das ändert nichts daran, dass ich nicht aufhören kann, an ihn zu denken und mir zu wünschen, er würde mich ansehen, sehen, dass es mir nicht gut geht, und mich einfach in den Arm nehmen. Auf diese ganz bestimmte Art und Weise, die so typisch John ist, dass ihn am liebsten für immer festhalten würde.

Ich verstehe nicht, was wir sind. Oder was wir waren. Jetzt sind wir wohl gar nichts mehr. Jetzt gibt es kein Sherlock und John mehr, sondern nur noch ein John und Mary. Und dann gibt es da noch mich. Sherlock Holmes. Jemand, der dazu verdammt ist, allein zu sein.

Manchmal waren John und ich nur Mitbewohner, manchmal Freunde, manchmal mehr als das, und manchmal war ich wie ein Fremder für ihn. In der einen Minuten hat er mit mir geredet, als wäre ich alles für ihn, und in der nächsten hat er mit mir gesprochen, als bedeute ich ihm gar nichts. An einem Tag hat er mir all seine Aufmerksamkeit geschenkt, am nächsten hat er mich ignoriert. Und ich weiß immer noch nicht, was er wollte. Ich habe mir nur gewünscht, es würde Sinn machen. Weil es mich verwirrt hat. Aber stattdessen habe ich beschlossen, ihn einfach still zu lieben und es nie laut zu sagen. Weil mich das vor seiner Ablehnung beschützt hat.

Ich sehe John an und wie er sie ansieht, glücklich, liebend, aufgeregt. Er freut sich auf ein Leben mit ihr und auf ein Leben ohne mich. Sollte ich lächeln, weil wir Freunde sind? Oder soll ich weinen, weil wir nie etwas anderes sein können? Vielleicht würde dann mal jemand fragen, ob alles in Ordnung ist. Aber eigentlich will ich gar nicht, dass es irgendjemand tut. Ich will, dass es John tut.
Ich will, dass es so ist wie noch vor einem Jahr. Dass er mich anschaut und mich fragt, wie es mir geht.

„Es ist alles okay", habe ich gesagt und gelächelt, weil es leichter ist als zu erklären, warum es mir nicht gut geht. John hat mir in die Augen gesehen, den Kopf geschüttelt und mich umarmt, eine Hand auf meinem Rücken, die andere in meinem Nacken.
„Ich weiß, dass es das nicht ist", hat er geflüstert.
Mehr habe ich nicht gebraucht. Mehr brauche ich immer noch nicht.

Warum musste es ausgerechnet John sein? Was hat sich mein Herz bloß dabei gedacht? Wieso musste ich mich in ihn verlieben, in jemanden, den ich nicht haben kann, der diese Gefühle nicht einmal ansatzweise erwidert.
Ich bin nicht schwul. Nein, das ist er nicht. Aber ich. Ich bin es. Und ich bin verliebt in meinen besten Freund. So sehr, dass ich es kaum noch aushalte.

Vielleicht ist es das, was mich dazu bewegt, zu gehen. Vielleicht ist es aber auch das Gefühl, nicht hierher zu gehören. Nicht in diese Kirche und nicht auf diese Hochzeit. Weil man nicht auf einer Hochzeit sein sollte, auf der jemand heiratet, den man liebt. Denn dann könnte man bereuen, nie etwas gesagt zu haben. So, wie ich es tue. Ich tue es die ganze Zeit.
Ich schaue nicht zurück, als ich die Kirche verlasse. Und niemand hält mich auf. Natürlich nicht. Weil sich niemand für mich interessiert.


-


Der Schmerz ist dumpf und weit weg. Mein Arm pocht, meine Haut kribbelt. Zehn Mal habe ich daneben gestochen und schrecklich lange habe ich gebraucht, bis die Nadel endlich in meiner Haut gesteckt hat. Sie ist blau und vernarbt. Auch das ist niemanden aufgefallen.
Jetzt sind meine Gefühle seltsam weit weg. Aber meine Gedanken sind noch da. Und sie sind schlimmer als jede Folter. Weil sie wissen, wie man mich wirklich quält. Und weil sie kein Mitleid haben, kein Erbarmen zeigen, nicht aufhören, wenn ich darum flehe, genau das zu tun.

Ich kauere auf dem Boden neben Johns Sessel, der schon eine Weile nicht mehr benutzt worden ist. Ich habe ihn nicht wegräumen können. Ich wollte ihn nicht aus meinem Leben entfernen, auch wenn ich längst kein Teil mehr von seinem bin. Ich könnte alles verlieren und es wäre mir egal. Nur ihn, ihn wollte ich um keinen Preis verlieren. Jetzt habe ich es. Und plötzlich erscheint mir alles sinnlos.

Mein Blick flackert zu meiner Armbanduhr. Meine Sicht ist verschwommen, die Zahlen seltsam verschmiert. Ich brauche lange, um die Uhrzeit erkennen zu können. 21:29 Uhr. In einer Minute beginnen der Tanz und das Feuerwerk, was Marys Eltern organisiert haben. Ich werde es nicht mitansehen können. Ich werde es auch nicht hören können. Aber ich hoffe, dass John es genießen kann.
Meine Augen finden den zerknitterten Brief auf seinem Sessel. Die Schrift darauf ist unordentlich und hektisch, ich konnte mir keine Zeit dafür nehmen. Es sind nicht mehr als leere Gedanken und zu viele Gefühle. Ein Brief mit den Dingen, die ich niemals sagen konnte. Es ist ein Ich liebe dich in hundert Worten.

Meine Arme und Beine beginnen zu zittern, mein Magen krampft sich zusammen, ich schmecke den sauren Geschmack von Galle in meinem Mund. Die Stimmen in meinem Kopf werden leiser, das Rauschen in meinen Ohren lauter. Mir ist kalt, aber es ist nur eine innerliche Kälte, nichts Körperliches. Mein Körper ist taub. Ich spüre nichts mehr. Da ist nur noch dieses Gefühl, was ich immer dann hatte, wenn John in meiner Nähe war. Frieden. Und Ruhe und Wärme.

Ich denke an ihn und an das, was wir mal waren. Tränen laufen über mein Gesicht, Tränen, die ich nie vor ihm weinen konnte, weil ich Angst hatte, er würde mich dann auf die Art sehen, wie ich mich selbst sehe. Der Raum verschwimmt vor meinen Augen, verwandelt sich in einzelne, pulsierende Umrisse, und gebe mich dem warmen Gefühl, dass sich um mich legt und mich in den Schlaf wiegt.

„Sherlock!"

Die Stimme dringt wie durch Watte zu mir hindurch. John. Ich fühle nichts mehr. Und ich bin froh, dass er das letzte sein wird, woran ich denken werde.

„Sherlock! Sherlock, wachen Sie auf!"

Etwas in mir erinnert mich schwach daran, dass mein Kopf mir diesen Satz wohl kaum als letzte Erinnerung an ihn vorhalten würde. Ich blinzle, versuche, etwas zu erkennen, aber sehe nicht mehr als zuckende Schatten. Dann spüre ich seine Hände an meinen Schultern, meiner Brust, auf meinen Wangen. Aber ich spüre nicht mehr, wie sie sich darauf anfühlen. Nur noch, dass sie da sind. Eine sanfte Schwere, die mir sagt, wo sie gerade sind.

„Wieso tun Sie mir das an?! Wieso haben Sie denn nie etwas gesagt?!"

Weil ich nicht wusste, wie.


-


Und damit lasse ich diesen OS einfach mal so stehen :).
Was denkt ihr, wie es ausgegangen ist?

Habt einen schönen Abend und süße Träume <3!
Wir lesen uns,

Eure Leli

Johnlock Adventskalender || LemonleliWo Geschichten leben. Entdecke jetzt