5. Türchen

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(Johns POV)

Es ist Weihnachten und das erste ohne Sherlock. Ohne meinen Mitbewohner. Meinen besten Freund. Ohne den Mann, in den ich mich verliebt und dem ich es nie gesagt habe. Wieso habe ich es ihm nie gesagt?!
Ich habe mich dafür geschämt. Ich habe mich dafür geschämt, einen Mann zu lieben, dafür, dass es mein bester Freund ist, dass es Sherlock ist und kein anderer. Sherlock Holmes ist ein Soziopath - er hat keine Gefühle, weder für dich noch für irgendetwas anderes.

Aber das ist nicht wie Wahrheit. Denn Sherlock hat gefühlt. Und er hat geliebt. Er hat seine Arbeit so sehr geliebt. Und meinen Tee. Und seine Geige und das Spielen bei Nacht. Vielleicht hat er zu viel gefühlt. Vielleicht haben wir uns auch nur zu sehr darauf verlassen, dass er das nicht tut. Dass er das hinbekommt, weil er immer alles hinbekommen hat.

Ich schaffe das schon, John, höre ich ihn sagen. Das hat er oft. Manchmal ernst, manchmal lächelnd, manchmal mit Tränen in den Augen. Geschafft hat er es immer. Und dann hat er geschwiegen, sich zurückgezogen, sich verschlossen, es mit einem es geht mir gut weggewischt, als wäre es nicht weiter von Bedeutung. Und ich habe es angenommen, es so hingenommen, es akzeptiert, und nie gefragt. Wieso habe ich nie gefragt?

Sherlock hat mir nie erzählt, wie es ihm geht. Vielleicht habe ich aber auch einfach nur zu wenig gefragt. Wir alle haben Geschichten, die wir niemanden erzählen, weil es niemanden gibt, dem man es erzählen will, weil es manchmal besser ist, Dinge für sich zu behalten, damit sie niemand anderem wehtun können. Aber mir wäre das egal gewesen. Ich hätte zugehört, ich hätte ihm helfen können, ich hätte ihn umarmt, ihn festgehalten. Ich wäre geblieben. Aber das bin ich nicht.
An dem Tag, als Sherlock sich umgebracht hat, als er von diesem verdammten Dach gesprungen ist, war ich nicht rechtzeitig da. Weil ich bei Sam und in ihrem Bett gewesen bin. Ich habe versucht, mich abzulenken, und Sherlock hat auf dem Dach gestanden und ich habe ihn nicht aufhalten können.

Ich will leben, John, nicht überleben müssen, höre ich ihn sagen. Da waren Tränen in seiner Stimme und in meinen Augen. Und dann ist er gesprungen. Und ich habe nur dagestanden, war wie festgefroren, habe zugesehen und dann geschrien. Sherlock hat dagelegen, auf dem Asphalt umringt von hysterisch kreischenden Menschen und seinem Blut. Ich weiß noch, wie ich darin gekniet habe, wie meine Klamotten sich vollgesogen haben, erinnere mich noch an meine blutverschmierten Hände, die ihn umklammert haben, an ihm gerüttelt haben, sehe mich neben ihm liegen, meinen Körper an seinen gepresst, höre mich seinen Namen schreien, immer und immer wieder, solange, bis mich jemand von ihm weggezerrt hat.

Ich habe mich gewunden und um mich getreten, wollte zu ihm zurück, bei ihm bleiben, weil ich das nie gewesen bin, nicht lange und deutlich genug. Aber die Arme haben mich weiter festgehalten. Danach habe ich Sherlock nicht mehr gesehen. Oder das, was von ihm übrig gewesen ist. Ich konnte es nicht. Ich wollte es nicht.

Ich will, dass Sherlock wieder da ist. Dass er neben mir sitzt, jetzt, genau in diesem Moment, dass er sich über den geschmückten Weihnachtsbaum und die festliche Dekoration beschwert, dass er mich ansieht mit diesem ganz besonderen Blick, brennend und funkelnd. Die Augen dunkel, der Ausdruck darin warm und tief.
Ich schließe die Augen, sehe sein Gesicht vor mir, höre ihn lachen, spüre seinen Körper neben mir. Ich will ihn wiedersehen. Ich will zu ihm zurück. Ich will nicht mein Leben damit verbringen müssen, ihn zu vermissen. Ich will mein Leben mit ihm verbringen. Und die Tatsache, dass das nicht möglich ist, zerreißt mich.

Ich höre, wie die Wohnzimmertür geöffnet wird, wie das alte Holz leise knarzt und die Angeln quietschen, dann leise, bedächtige Schritte in meine Richtung, will die Augen öffnen und tue es nicht. Meine Lider sind zu schwer und der Anblick von Sherlock vor meinem inneren Auge zu schön. Jemand bleibt vor mir stehen, ich rieche Schnee und Kälte. Und dazwischen dieser ganz bestimmte Duft, den ich nie vergessen könnte. Minze und Kaffee.

Ich reiße die Augen auf, mein Blick schnellt hoch und trifft auf kühles, sehnsüchtiges Blau. Mein Atem stockt, mein Herz setzt mehrere Schläge aus, trommelt gegen meinen Brustkorb, erinnert mich daran, dass ich noch lebe, dass ich nicht tot bin, obwohl ich das sein muss, weil es keine andere Erklärung gibt.
Sinnliche, von der Kälte gerötete Lippen, blasse Haut, dunkle Locken, ein stechender, funkelnder Blick. Ich starre ihn an, spüre, wie ich anfange zu zittern und zu beben, blinzle, denke, dass ich träume, muss träumen, weil das, was ich sehe, nicht sein kann, weil das, was ich sehe, jemand ist, der tot neben mir gelegen hat.

„Bin ich im Himmel?", frage ich flüsternd, stehe auf, strecke meine Hand nach ihm aus. Er ist wunderschön, so schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Seine Gesichtszüge werden mild, sein Lächeln liebevoll.
„John", höre ich ihn hauchen und seine tiefe, verführerische Stimme jagt mir einen Schauer über den Rücken.
„Sherlock?", erwidere ich und meine Stimme bebt.

Meine Hand berührt seine Brust und den weichen Stoff seines Hemdes. Er fühlt sich echt an, wirklich, als stünde er tatsächlich vor mir. Meine Finger fahren über seine Wange, durch seine seidigen Haare und über seinen Nacken. Er kann es nicht sein. Das ist nicht möglich.

„Ich ... du bist gestorben." Ich kann nicht aufhören, ihn zu berühren. „Ich habe dich gesehen. Ich habe neben dir gelegen. Ich habe deinen Puls gefühlt. Du ... du warst, du bist tot."
„Aber gerade stehe ich doch vor dir", flüstert Sherlock rau und seine Lippen verziehen sich zu einem zärtlichen Lächeln. „Ich bin hier, John. Ich bin hier und bei dir."

Meine Arme schlingen sich um seinen Körper, pressen ihn an meinen, so fest, dass kein Blatt mehr zwischen uns passt. Ich spüre sein Herz über meinem schlagen, kräftig und schnell, vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge, atme ihn ein, spüre das Zittern seiner Hände, als er sie auf meinen Rücken legt, mich noch näher an sich zieht.

„Wie ... wie ist das möglich?", hauche ich erstickt. Meine Hände umfassen sein Gesicht, fahren andächtig über die zarte Haut. „Da war so viel Blut ..."
„Alles zu seiner Zeit, John", flüstert Sherlock und lehnt seine Stirn gegen meine. „Alles zu seiner Zeit."

Ich atme seinen Duft ein, schließe die Augen, spüre ihn und mich und die Emotionen in meinem Inneren. Dann, plötzlich, auf einmal seine Lippen hauchzart auf meinen, wie sie sich auf sie legen, unendlich sanft und zärtlich.
Ich zittere, presse mich an ihn, atme scharf ein. Sherlocks Lippen sind unglaublich weich. Ich dränge mich ihnen entgegen, öffne meinen Mund, greife in seine Haare. Mein Atem ist flach, mein Herzschlag unglaublich schnell. Ich spüre seine Zunge und wie sie mit meiner spielt, schmecke Kaffee und Lebkuchen, spüre ihn an meinem Körper.

„Sherlock", hauche ich gegen seine Lippen, kämpfe gegen die Tränen an und werde doch von ihnen überwältigt. Ich klammere mich an ihn, presse mein Gesicht an seine Brust, spüre seine Arme um mich.
„Frohe Weihnachten, John", höre ich ihn in mein Haar murmeln. Ich muss lächeln, schlinge meine Arme ebenfalls um ihn.

Ich habe geglaubt, ihn für immer verloren und versagt zu haben, Weihnachten allein verbringen zu müssen, nie wieder so etwas wie Glück empfinden zu können. Aber auf einmal spüre ich alles auf einmal und viel zu viel. Ich würde es ihm gerne sagen, sagen, was ich für ihn empfinde, aber bleibe stumm. Weil es manchmal keine Worte braucht, um etwas auszusprechen.


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Heute nur ganz knapp und recht einfallslos - ich war nur unterwegs und bin ziemlich müde ^^. Aber den OS musste ich doch noch für euch fertig schreiben. Er ist nichts Besonderes, dafür habe ich mir für morgen etwas mehr überlegt.

Gute Nacht ihr Lieben <3!
Wir lesen uns,

Eure Leli


Johnlock Adventskalender || LemonleliWo Geschichten leben. Entdecke jetzt