8. Hel

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Ich klopfte und machte die Tür auf. Alle Augen richteten sich auf mich. Sie ignorierend betrat ich die Klasse und sah mich nach einem Platz um. Es waren nicht sonderlich viele Personen da. Ich entdeckte Joel auf der linken Seite, wie er mit seinem Handy beschäftigt war, und beschloss zeitgleich, mich auf die Rechte zu begeben. Außerdem waren hier auch Fenster, die mir Ausblick auf den kleinen Schulhof gewährten. Langweilig, aber wenigstens keine vollgeschmierten Wände, an denen sich der Putz schon zu lösen begonnen hatte.

Ich und noch so eine, mit der ich Kunst hatte, waren die einzigen Mädchen. Die Aufseherin kam herein, stellte sich als Ms. Martin vor und verteilte uns die Arbeitsblätter, die wir in den nächsten zwei Nachhilfestunden abarbeiten mussten. Die Leute holten in Zeitlupe ihre Sachen hervor und alle fingen halbherzig an rumzukritzeln. Ich war mir sicher, dass keiner von ihnen wirklich das tat, was er sollte. Ich gähnte und fragte mich, was Blake wohl gerade tat. Es war seltsam ohne ihn. Natürlich verschwand er ab und zu mal, er war mir ja nicht zehn Jahre lang auf Schritt und Tritt gefolgt, aber jedesmal, wenn er weg war, fühlte ich mich so, als würde etwas fehlen. Außerdem war er dieses Mal ziemlich komisch drauf gewesen, was alles noch unerträglicher machte, denn ich wusste nicht einmal den Grund dafür.

Nach Ablenkung suchend, starrte ich hinaus und schließlich schaffte eine leere Tüte, die wie eine Feder über das Gelände schwebte, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich beobachtete sie eine Weile, bis sie sich in einem Ast verfing und im selben Moment die Tür aufging.
Zu allem Überfluss kam Mike reingelatscht.

Super.

Er kam einige Schritte in den Raum rein, blieb stehen und ließ seinen Blick über die Leute schweifen. Als er mich sah, zögerte er kurz, doch nachdem seine Augen über das andere Mädchen gewandert waren, riss er sich scheinbar doch zusammen und kam grinsend in meine Richtung. Sie war zugegeben nicht die Hübscheste- und gut riechen tat sie auch nicht, wie ich einmal in einer Gruppenarbeit feststellen musste- aber Mike hätte ruhig zu ihr gehen können. Neben einem Geschöpf mit Titten musste er so oder so sitzen, er hatte schließlich seine Prinzipien. Ich wunderte mich, warum Tess sich überhaupt noch mit ihm abgab. Jeder, wirklich jeder, wusste von seiner untreuen Art, und es war bescheuert, dass es Weiber gab, die sich trotz allem auf ihn einließen.

Ich ließ meine Tasche auf den Platz neben mir plumpsen und sagte, gerade als er bei mir ankam: „Besetzt."

Er sah zu mir herab und hob die Augenbrauen. „Ich seh da aber niemanden?"

Ich verschränkte die Arme. „Schau genauer hin."

Wenn Blake hier gewesen wäre, hätte die Sache eigentlich ganz witzig sein können. Aber das war er nicht und mir war auch nicht nach Lachen zumute.

Es war so anstrengend mit anderen Menschen zu interagieren.

Die Lehrerin, die das Geschehen mitbekommen hatte, fragte den Stift zückend: „Kommt noch jemand? Dann schreib ich mir das auf."

Mike und sie sahen mich erwartungsvoll an und ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte.

„Äh-"

„Nein", antwortete jemand und schob meine Tasche vom Stuhl- meiner Meinung nach etwas zu schwungvoll- um sich selber draufzusetzen. „Alle sind da."

„Ach ja?", sagte Mike beinahe anklagend, kniff seine Augen zusammen und beäugte Joel misstrauisch.

Die zwei hatten, seit er auf der Schule war, eine seltsame Beziehung zueinander entwickelt. Am zweiten Tag schon, sollen sie sich geprügelt haben, hieß es. Ich hatte ihn nicht persönlich gefragt, aber erwarten würde ich es von beiden. Es hätte mich auch gewundert, wenn sie sich verstanden hätten. Mike war das komplette Gegenteil von Joel.

Laut, hitzig, machte andere zu seinem Vergnügen runter, hatte das IQ einer Banane und spielte sich überall als der Boss auf. Außerdem war er der geborene Quarterback der Schulmannschaft.

Joels Essenz hingegen bestand aus desinteressierter Ruhe und der Besonderheit, sich in bestimmten Situationen zurückzulehnen und die Geschehnisse einfach nur zu beobachten. Außerdem war er stets freundlich gegenüber Leuten, die nicht Arya hießen, und strömte eine Aura aus, die andere zu seinen Füßen liegen ließ. Beinahe jeder mochte ihn und es hatte sich in unserer Stufe sofort rumgesprochen, dass jemand wie er zu uns gewechselt war.

Er musste sich den Mittelpunkt nicht erkämpfen, er stand schon von Anfang an dort.

„Das wäre dann geklärt?", fragte Ms. Martin.

Joel nickte und lächelte Mike an. Dieser machte ihm mit einem Zeichen klar, dass er ihn im Auge habe und verzog sich dann nach hinten, zu dem Mädchen aus dem Kunstkurs.

„Das war nicht nötig gewesen!", zischte ich leise, denn jetzt war ich in genau der Situation, die ich meiden wollte.

„Ich habe es nicht für dich getan", sagte er nur und holte dabei sein Handy wieder raus, „Am Fenster habe ich besser Netz."

***

Das Wetter am Morgen hatte getrügt. Das war mir klar geworden, als ich mitten im Heimweg von einer Regenwand überrascht wurde.

Ich musste mir echt mal ein Fahrrad besorgen, aber mit welchem Geld?

Klitschnass, in T-Shirt und lustlos kickte ich eine leere Dose vor mir her. Das gleichmäßige Schlittern über den Asphalt ließ mich in eine Art Trance verfallen.

Warum war Blake so wütend geworden nur weil ich ihn berührt hatte? Ich wusste ja, dass er es nicht mochte, aber war es wirklich so schlimm für ihn? Was war das für ein Schlag gewesen, als ich seine Wunde angefasst hatte? Weshalb war er überhaupt so zugerichtet?

Die Fragen kreisten eine Weile in meinem Kopf, bis mich ein leichter Stoß gegen meine Zehen zurück in die Realität riss. Zu meinen Füßen lag die Dose, jemand hatte sie zurückgeworfen. Ich sah auf. Vor mir stand ein kleines Mädchen. Zehn Jahre oder jünger. Sie musterte mich von oben bis unten und ihr Blick war so durchbohrend, dass es mir schon unangenehm war. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Durch den hypnotisierenden Trab, hatte ich sie gar nicht bemerkt.

„Ist was?", fragte ich, weil ihr Starren langsam störte.

Sie antwortete nicht sofort und ihre Augen wurden zu Schlitzen. „Wer bist du?"

Ich schnaubte.

Ich hatte jetzt keine Nerven für Kinder, die sich auf offener Straße Freunde suchten. Ich wollte an ihr vorbeigehen, doch plötzlich schoss ihre Hand hervor und packte meinen Arm. Sie war überraschend stark. Verblüfft sah ich sie an und versuchte meinen Arm zurückzuziehen, doch ihr Griff war eisern.

„Hey!", fuhr ich sie an.

Wer bist du?", hakte sie nur weiter und beäugte mich feindselig.

Langsam reichte es mir. Mit einen Ruck riss ich mich von ihr frei und sagte: „Was ist dein Problem, Mädchen?!"

Ihre Augen wurden groß und überrumpelt stammelte sie: „Wie hast du..."

Ich drängte mich erneut an ihr vorbei und diesmal hielt sie mich nicht auf.
Mein Leben schien von Tag zu Tag immer seltsamer zu werden.


Ich sehe dichWo Geschichten leben. Entdecke jetzt