1.1 Genau genommen war es Mord

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1. Kapitel

Genau genommen war es Mord.

Aufgebracht drängten sich meine Kolleginnen in die schmale Tür, die nach draußen führte. Auf Zehenspitzen konnte ich über ihre Köpfe hinweg einen Teil meines Chefs erkennen, der zum Glück die Größe einer Eiche hatte. Er schlug im Hinterhof auf etwas am Boden ein und hysterisches Kreischen der Umstehenden begleitete jeden einzelnen Hieb. Erst als sich zwei aus der ersten Reihe angeekelt abwandten und mit der Hand vor dem Mund den Gang zu den Toiletten entlang taumelten, konnte ich mich vordrängeln.

Ich bereute meine Neugier, als ich sah, wer hier hingerichtet wurde: Eine braune Ratte lag zwischen den Mülltonnen, die Hinterbeine verdreht von sich gestreckt.

»Ist sie tot, Finny?«, piepste meine Kollegin Petra, die den Müll hinausgebracht und das Tier aufgescheucht hatte. Ihr Schrei hatte die ganze Belegschaft des Supermarktes zusammengetrommelt.

Nein, sie ist nicht tot, beantwortete ich ihre Frage in Gedanken. Ich schwieg und zuckte mit den Schultern.

Als wäre es mein eigener, spürte ich den Herzschlag des Tieres, beschleunigt durch die Schmerzen der inneren Verletzungen. Ein Gefühl von Schwindel breitete sich in mir aus, und nur, weil ich mich an den Türrahmen klammerte, konnte ich verhindern, dass meine Beine nachgaben. So intensiv hatte ich die Verbindung noch nie gefühlt. Für einen Moment erschien es mir, als würde ich selbst dort liegen.

»Widerliches, dreckiges Ungeziefer!« Mein Chef war völlig außer Atem. Er hob den Besen ein letztes Mal auf und zertrümmerte den Schädel der Ratte.

Jetzt war sie tot.

Die anderen zerstreuten sich, erleichtert darüber, dass ein Schädling weniger herumlief. Ich hingegen verspürte Verlust. Nicht tiefe Trauer; eher so, als wäre eine Großtante verstorben, die man zwar nie gekannt hatte, von deren Tod man aber dennoch berührt war.

Ich schloss die Augen und atmete durch, um diese Gedanken zu vertreiben. Es war zwecklos. Die Angst blieb, und auch die Gewissheit, dass ich anders war.

»Das ist jetzt schon die Zweite in dieser Woche«, keuchte der Chef. »Gleich morgen werde ich Fallen aufstellen.«

***

Nach dem Zwischenfall im Hinterhof machten wir uns wieder an die Arbeit. Ich fuhr fort, die Gläser mit Essiggurken auf dem untersten Regalboden zu zählen, um sie in meine Inventurliste einzutragen. Eine Hand voll Einkaufswagen schob sich durch die Reihen des Supermarktes in Münchens Nordstadt. An den Griffen hingen Kunden, die im Neonlicht die Regale absuchten.

Mein Chef hatte sich vor mir aufgebaut, die Hände in seine massigen Hüften gestemmt, und musterte mich von oben herab. Er erwartete eine Antwort auf die Frage, die er mir vor dem Vorfall mit der Ratte gestellt hatte.

»Es tut mir leid, ich kann nicht länger bleiben«, sagte ich und zuckte mit den Schultern. Vor ihm kam ich mir noch kleiner und dünner vor, als ich ohnehin schon war. Früher, vor dem schrecklichen Ereignis, war es mir wichtig gewesen, wie ich aussah. Auf endlosen Shoppingtouren hatte ich mit meinen Freundinnen Münchens Einkaufsmeilen unsicher gemacht. Das war, bevor ich alle Kontakte abgebrochen hatte. Heute war mir mein Aussehen gleichgültig. Die aschblonden, schulterlang gestutzten Strähnen trug ich jetzt nachlässig zusammengebunden.

»Sie können auf keinen Fall nach Hause«, schnaubte mein Chef und schüttelte den Kopf derart energisch, dass seine dicken Wangen vor Aufregung schwabbelten. »Wir müssen heute mit der Inventur fertig werden.«

»Leider muss ich pünktlich um halb sieben gehen.« Ich lächelte kläglich. Sein Blick blieb kühl. Mir war klar, dass er einen Grund für meine Arbeitsverweigerung erwartete. Doch so sehr ich mich anstrengte, es fiel mir keine passende Erklärung ein. Ich war eine miserable Lügnerin. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass man mir den Schwindel im Gesicht ablesen konnte.

Erst seit vier Wochen hatte ich diesen Aushilfsjob. Mein erster überhaupt. Es war ein Versuch, zumindest tagsüber ein normales Leben zu führen.

Der Chef richtete seinen Zeigefinger wie eine Pistole auf mich und zog eine Augenbraue hoch. Er holte Luft und sein Kittel blähte sich auf, als könnte er mich wie eine Lawine überrollen. »Wenn Sie nicht bereit sind, länger hierzubleiben«, drohte er und ich ahnte, dass er jetzt alle Register ziehen würde, »dann habe ich für Sie künftig keine Verwendung mehr.«

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Ich habe jetzt mal eine liebe Video-Rezension angehängt. Eigentlich wollte ich den Trailer verlinken, aber heute klappt es irgendwie nicht o_O. Ich hole es nächste Woche nach. Auf meiner FB-Seite kann man ihn allerdings schon sehen ...

EDIT: Habe es jetzt geschafft, den Trailer zu verlinken. Ich hoffe, er gefällt Euch genauso gut wie mir :) 

Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt