4.1 Warum ich die U-Bahn liebe

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Erst als sich die automatische Glastür mit einem Zischen vor mir aufschob, erwachte ich aus meinem Trancezustand. An den Weg von der Skatehalle hierher, zum Supermarkt, konnte ich mich nicht mehr erinnern.

In meinem Kopf hämmerten Ludwigs Worte wie Kopfschmerzen. Wenn ich ihm glauben sollte, war ich nicht mehr als eines von Mads Techtelmechteln. Es war möglich, dass Mad mit mir spielte, ich kannte ihn so gut wie gar nicht. Genauso wenig wie Ludwig. Sollte ich seine Bemerkung ohne weiteres für bare Münze nehmen? Eines lag dagegen auf der Hand: Mads Freunde konnten mich auf den Tod nicht ausstehen.

Willkommen im Club.

Als wäre mein Pensum für diesen Tag noch nicht erreicht gewesen, schlug mir im Supermarkt dieselbe feindselige Stimmung entgegen.

»Wie lange habt ihr gestern noch gezählt?«, fragte ich Petra, nachdem ich meine Jacke aus dem Aufenthaltsraum geholt hatte.

»Bis Mitternacht.« Sie war damit beschäftigt, eine Ladung Rattenfallen in die Box mit der Aktionsware einzuräumen.

»Ist der Chef hier?« Ich musste plötzlich schreien. Mehrere Kunden stürzten sich auf die Packungen, die sie zuhauf in ihre Einkaufswagen warfen.

»Im Büro.« Petra gab es auf, die Ware einzusortieren. »Bitte nur haushaltsübliche Mengen«, rief sie der Meute zu, die um die Fallen stritt.

Ich vermied es, das Bild auf der Packung anzusehen.

Das einseitig verspiegelte Marktleiterbüro hatte einen großen Vorteil. Der Chef konnte zwar von hier aus die Kasse beobachten, ohne selbst gesehen zu werden, was sehr unangenehm war. Andersrum konnte man aber nicht von draußen nach drinnen sehen. Wäre das möglich gewesen, hätten wir mit Sicherheit weniger Kunden gehabt. Mein Chef hatte sich hier seine persönliche Räucherkammer eingerichtet. Dicke Schwaden standen wie eine Nebelwand im kleinen Raum und legten sich gnadenlos auf allem ab, was herumstand. Und es stand viel herum: Ordner, Papierstapel, Schachteln, wieder Papierstapel und mittendrin der Chef mit einer Zigarette im Mund, um für Nebelnachschub zu sorgen.

»Seit wann dürfen wir Rattenfallen verkaufen?«, fragte ich nach einer knappen Begrüßung und versuchte möglichst, das Atmen zu vermeiden.

Der Chef hob die rechte Hand, die ungeschickt mit einem Verband umwickelt war, und zog an der Zigarette. »Sondergenehmigung der Stadt.« Er blies den Rauch durch die Nase. »Dabei helfen diese Lebendfallen kein Stück. Das sind nur Maßnahmen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Eine häufigere Müllabfuhr würde Wunder wirken.« Er zog nochmal und sengte den Stängel beinahe zu einem Viertel hinunter.

»Das wird der Stadt vermutlich zu teuer«, sagte ich.

Er grinste und lehnte sich zurück, wobei der Stuhl unter seinem beachtlichen Gewicht ächzte. »Ich würde Ihnen raten, einen Schulabschluss zu machen, Sie scheinen durchaus intelligent zu sein. Das hier war eh nicht das Richtige für Sie.«

»Doch, das war es«, sagte ich und knetete meine Jacke.

»Tut mir leid, aber ich brauche zuverlässige Leute. Wenn ich Ihnen das durchgehen lasse, sinkt die Moral der Belegschaft.« Er packte einen Zettel von einem der Stapel und zückte einen Werbekugelschreiber aus seinem Marktleitermantel. »Hier sind Ihre Papiere.« Er unterschrieb, verzog schmerzverzerrt sein Gesicht und rieb über den Verband.

»Was ist mit Ihrer Hand?«, fragte ich und war trotz des traurigen Anlasses froh, gleich der Nebelhölle entkommen zu können.

»Ich weiß nicht«, brummte er. »Das verdammte Rattenvieh muss mich gestern gebissen haben.«

***

Keine Ahnung warum, aber seitdem ich eine Nosferatu war, liebte ich die U-Bahn. Die Dunkelheit in den Schächten beruhigte mich auf eine gewisse Weise. Obwohl überall in der Bahn typische Münchner Sauberkeit herrschte, roch es für mich angenehm nach Erde und Lehm. Was ich nicht mochte, waren Fahrkarten. Ich ignorierte den Automaten, suchte mir einen Platz in einem Waggon der U6 und ließ mich ins Zentrum fahren. Niemand kontrollierte mich. Schade eigentlich. Meine Mutter rastete jedes Mal tierisch aus, wenn sie die Strafe überweisen musste.

Am Bahnhof Marienplatz stieg ich aus. Kein anderer Verkehrsknotenpunkt der Stadt war so frequentiert wie dieser. Die Reiseführer irrten sich: Das wahre Herz Münchens schlug nicht auf dem berühmten Platz darüber, sondern einige Meter darunter. Sieben S-Bahnlinien kreuzten an dieser Stelle das U-Bahn-Netz. Bei Fußballspielen und im Berufsverkehr musste das Herz Schwerstarbeit leisten.

Genauso wie in den vier Herzkammern wurden auf vier Ebenen Menschen wie rote Blutkörperchen durch die Adern der Stadt gepumpt. Die orangefarbenen Fußgängertunnel sahen mit etwas Fantasie so aus wie Venen von innen. Ich ließ mich darin mit einem Menschenstrom nach oben spülen.

Ein Blick auf die Uhr des neuen Rathauses bestätigte meinen Verdacht. Es war kurz vor drei. Ich lief los.

Auf der Einladung stand keine Adresse des Hotels Vier Jahreszeiten«, was mich nicht weiter verwunderte. Jeder Münchner wusste, dass es zu den Prachtbauten an der noblen Maximilianstraße gehörte. Im Laufschritt bog ich auf die schnurgerade Luxusmeile ein, ließ die Edeldesigner und Juweliere links liegen und stürmte zum Portal des Hotels.

Wo war Carsten?

Ich drehte mich im Kreis, als ich im Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Aus dem Schatten der Eingangssäulen löste sich ein Mann im schwarzen Anzug und setzte auf mich zu. Ich wich zurück und stieß gegen ein parkendes Auto. Er packte mich am Arm, dass es wehtat. In seiner verspiegelten Sonnenbrille konnte ich mich selbst sehen, den Mund vor Schreck aufgerissen.

»Wo bleibst du?«, keuchte der Angreifer. Seine schwarze Krawatte baumelte ihm unbeholfen gebunden am Hals. »Ich warte hier schon seit einer Ewigkeit, mein Fräulein

Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt