»Was macht dich sicher, dass nicht die Jäger dahinter stecken? Was, wenn es eine Falle ist?« Ich beäugte die Einladung, die auf dem Esstisch lag, als würde sie leben. Eine Vertrautheit ging von ihr aus, die ich schon beim Anblick der toten Ratte verspürt hatte.
»Es ist keine Falle. Da bin ich mir absolut sicher.« Carstens Stimme klang feierlich. »Spürst du es nicht, Finny? Es ist wie ... wie ... verwandte Energie.«
»Nein, ich fühle nichts«, log ich. Gut, dass er mein Gesicht nicht sah. Er brauchte nicht zu wissen, dass mich etwas rief, das mir keine Wahl ließ, ob ich der Einladung folgen wollte oder nicht. Damit war auch meine Verabredung mit Mad geplatzt. Das passte wunderbar zu meinem verkorksten Leben. Ich seufzte.
Carsten deutete meine trübe Stimmung falsch. »Mach dir keine Sorgen, Finny. Wenn wir die anderen finden, wirst du dich auch wie eine richtige Nosferatu fühlen. Wir fahren gegen zwei los, dann bleibt genügend Zeit, um uns dort umzusehen.«
Plötzlich war ich hellwach. »Du brauchst mich nicht mitnehmen. Ich möchte vorher noch meine Jacke im Supermarkt abholen.« Außerdem musste ich dringend zum Skatepark. Vielleicht konnte ich Mad dort treffen und ihm erklären, dass ich um drei keine Zeit hatte.
»Kein Problem, ich fahr dich hin.«
Mist. »Carsten!« Ich beeilte mich, bevor er den Hörer auflegen konnte. »Ich will dich nicht aufhalten. Du solltest jede Minute nutzen und die Lage beim Hotel beobachten. Am besten fährst du gleich los.«
Schweigen am anderen Ende. Ich kaute an meinen Fingernägeln. Würde er den Köder fressen, den ich ihm ausgelegt hatte?
»Na gut«, sagte er. »Treffen wir uns beim Eingang des Hotels.«
***
Was zog man für eine Zusammenkunft von Rattenwesen an? Früher hätte mir das mehr Kopfzerbrechen verschafft als die Tatsache, dass Dämonen mitten unter uns existieren. Ich schlüpfte in die Sachen, die ich für das Treffen mit Mad aus meinen Umzugskartons gekramt hatte. Verwundert sah ich an mir herunter. Die Jeans und den grünen Rollkragenpulli hatte ich figurbetont in Erinnerung. Stattdessen schlabberten die Klamotten an mir, als hätte ich die Kleidergröße meiner Mutter erwischt. Vielleicht sollte ich doch zur Abwechslung einmal etwas Vernünftiges essen. Nur die schwarzen Turnschuhe passten noch perfekt.
Weil im Waschbecken schon wieder die Rasierklinge lag, vermied ich es, beim Zähneputzen nach unten zu sehen. Stattdessen hielt ich meinen Blick stur geradeaus auf den Spiegel. Ich seufzte. Dunkle Augenringe zierten die langweilig grünen Augen. Die blonden Haare bettelten um einen Haarschnitt. Vielleicht war es ganz gut, dass die Verabredung mit Mad geplatzt war. In diesem Zustand machte ich wirklich keine gute Figur.
***
Draußen überraschte mich Sonnenschein, der die verfärbten Blätter der Bäume mit Gold überdeckte. Unverkennbar zog der Herbst in München ein. Bei diesem Wetter war im Skatepark die Hölle los. Wenn man sich die Menschen einmal wegdachte, glich das Gelände der Kulisse einer Science-Fiction-Serie. Tiefe Krater durchzogen die Fläche aus glattem Beton. Dazwischen standen überdimensionale Stufen, wie für Riesen gemacht, und Geländer aus Eisen, so nah am Boden, dass sie höchstens Zwergen als Halt dienen konnten. Unzählige Jugendliche tummelten sich hier, nicht nur mit Skateboards, sondern mit allem, was sich fahren ließ.
Ich hielt einen Jungen auf, der mit einem Tretroller halsbrecherisch über eine Kante an mir vorbei geschlittert war. »Ich suche einen Freund. Er heißt Mad, kennst du ihn zufällig?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich kann hier nicht alle mit Namen kennen.«
»Er fährt auffällig gut Skateboard.« Ich zeichnete mit dem Finger einen Salto in die Luft.
»Oh, die meinst du.« Sein Gesicht bekam einen ehrfürchtigen Ausdruck. »Denen gehört die Halle dort hinten. Die haben einen eigenen Verein. Aber da dürfen nur Profis rein, die nehmen niemanden auf.« Er zog eine Schnute, als wäre er schon einmal abgewiesen worden.
Im Gegensatz zum quirligen Skatepark wirkte die Halle wie in einen Dornröschenschlaf versunken. Unkraut quoll aus den Rissen im Mauerwerk, die bodennahen Fenster waren von innen mit Brettern verschlagen. Jemand wollte seine Ruhe. >Rollhaus e.V.<« stand auf einer Tafel über dem Tor aus Stahl. Auf der Tür weiter darunter prangte ein Schild: >Zutritt nur für Vereinsmitglieder<« Ich drückte die rostige Klinke. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Hätte mich auch gewundert. Der Junge hatte Recht, es sah nicht so aus, als wäre der Verein auf neue Mitglieder scharf. Von Mad und seinen Freunden keine Spur.
Was war das? Mit einem Mal wusste ich, dass sich Essen im Gebäude befand. Ich zog die Luft durch die Nase. Komisch. Ich selbst konnte nichts riechen - jemand anders roch es.
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Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.
ParanormalMystisch - Düster - und voll von schwarzem Humor Finnys Leben hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Gerade noch ein beliebtes Mädchen an ihrer Schule, lebt sie nun als Rattendämon abgeschottet von den Menschen, die ihr einst so viel bedeuteten...