3.1 Nichts wird so sein, wie es jemals war

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Ich sitze auf grauen Fliesen, den Blick auf den Boden gerichtet. Ein roter Tropfen fällt vor meine Füße. Weitere Tropfen gesellen sich schneller dazu, bis sich eine Pfütze bildet. Verwundert schaue ich auf. Mad steht vor mir. Er lächelt traurig, während sich die Ärmel seines Hemdes mit Blut vollsaugen. Wir sind jetzt am Strand des Pazifik. Das Blut strömt aus seinen Unterarmen, hinein ins Meer und färbt es zu einem stechend roten Ozean. Das gleiche Rot wie die Augen, mit denen Mad mich jetzt anstarrt. Ich will schreien, aber als ich meinen Mund öffne, erklingt stattdessen die Musik von Eminem. Zuerst leise, dann immer lauter, bis ich mir die Ohren zuhalten möchte. Leider habe ich keine Hände mehr ...

Als ich die Augen öffnete, sah ich die Decke meiner Abstellkammer. Das Licht der nackten Glühbirne ließ mich blinzeln. Offensichtlich war ich am vorherigen Abend nicht mehr in der Lage gewesen, sie auszuschalten. Mein Herz pochte aufgewühlt.

Viel zu rasch, um den Sinn zu deuten, verblassten die Bilder meines Traums zu Bruchstücken, bis mir die Erinnerung daran schwerfiel. Die Musik war geblieben. Ich setzte mich auf, rieb meine Augen und lauschte. Bis zum Esstisch folgte ich der Melodie und fand dort mein hüpfendes Handy. Das Display blinkte aufdringlich und Eminem sang sich die Seele aus dem Leib. War es Zufall, dass Mad und ich den gleichen Klingelton hatten?

Noch etwas hatte ich mit ihm gemeinsam: Ich verabscheute es, jederzeit erreichbar zu sein. Mit einem Druck auf den roten Knopf unterbrach ich die Musik, legte mich zurück ins Bett und begann, von Zehn rückwärts zu zählen. Bereits bei Sieben fing Eminem wieder an zu singen. Ein neuer Rekord. Bisher war ich mindestens bei Fünf angelangt, bevor Carsten seinen Terror von neuem startete.

»Warum gehst du schon wieder nicht ran?«

»Ich wünsche dir auch einen guten Morgen«, sagte ich und überlegte einen Moment, ob ich das Telefon ins Klo werfen sollte. Ich verwarf lieber den Gedanken. Carsten würde innerhalb einer Minute bei mir auf der Matte stehen. Am Telefon war ich zumindest nur seiner Stimme ausgeliefert.

»Hast du etwa noch geschlafen? Es ist schon beinahe Mittag!«

»Bin gestern spät ins Bett.« Ich strich über meinen tauben Unterarm. Meinen Vorsatz, es nicht mehr zu tun, hatte ich sehr schnell wieder vergessen. Dreimal hatte ich mich nach dieser Einladung schneiden müssen, bis ich mich soweit beruhigt hatte, dass ich einschlafen konnte. Das war ebenfalls ein neuer Rekord. Wenn auch ein trauriger.

»Verstehe.« Carsten klang eifrig. »Ich war auch total aufgedreht, wegen der Einladung. Die ganze Nacht habe ich im Internet recherchiert.«

»Was gibt es da zu recherchieren?« Ich stöhnte innerlich und setzte mich auf einen Umzugskarton. Selber schuld. Was hatte ich Carsten gestern Abend auch anrufen und ihm das mit der Einladung erzählen müssen? Er hatte ebenfalls eine bekommen. Jetzt gab es kein anderes Thema mehr.

»Wir müssen uns vorbereiten, wenn wir andere Nosferatu treffen. Bestimmt haben alle Nosferatu in München diese Einladung bekommen.« Er wurde lauter. »Das ist endlich der Beweis, dass es noch andere gibt, Finny.«

Ich verzog das Gesicht. Meine Freude hielt sich in Grenzen. Ich wollte zu keiner Hinterhof-Ratten-Vereinigung gehören.

Ich wollte einfach nur normal sein.

Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt