2.5 Altes Blut

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Der Drang, irgendetwas zu tun, bestätigte mir, die Sonne war untergegangen und der Mond stand am Himmel. Eine warme Dusche würde das Gefühl wegschwemmen, doch ich hatte noch keine Kraft, ins Bad zu gehen. Außerdem musste ich vorher noch etwas suchen.

Meine Umzugskartons stapelten sich überall im Kellerloch verteilt. Die Schachtel, die ich brauchte, lag unter meinem zweiten Möbelstück. Im Gegensatz zum Tisch, der sich wie ein Fremdkörper breitmachte, war das Bett richtig praktisch. Es passte millimetergenau in die Abstellkammer. Das Kellerloch hatte drei Lichtschächte, die ich mit schwarzer Folie abgeklebt und mit Wolldecken zusätzlich verhangen hatte. Die Abstellkammer war der einzige Raum ohne Fenster. Ich fühlte mich sicherer, hier drinnen zu schlafen, denn schon der geringste Einfluss des Mondlichtes weckte den Dämon in mir. Bisher hatte ich die Verwandlung jedes Mal auf diese Weise verhindern können.

Carstens Zimmer in der oberen Wohnung war genauso verklebt. Seine Eltern schien das nicht zu wundern. Auch nicht, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn noch zu Hause wohnte und keine Anstalten machte, sich eine Arbeit zu suchen. Ein bisschen beneidete ich ihn.

Meine Mutter hatte damals an meine Zimmertür gedonnert. »Finny, mach endlich auf! Das ist doch nicht normal, dass du dich einsperrst. Warum gehst du nicht mehr zur Schule?« Für meine Mutter war es sehr wichtig, normal zu sein. Niemals hätte ich ihr erklären können, was wirklich mit mir los war.

Mein Vater war arbeitslos und verbrachte die ganze Woche auf der Couch mit der Fernbedienung in der Hand.

Eines Tages musste es meiner Mutter mit mir gereicht haben. Sie meinte, wir sollten Abstand gewinnen. Eine praktische Art, ein Problem loszuwerden. Gleich am nächsten Tag hatte sie mir die Wohnung bei Carstens Eltern präsentiert. Auf der Hinfahrt hatte ich mich noch geweigert. Als ich jedoch die zwei abgeklebten Fenster im Erdgeschoss sah, war ich schnell einverstanden gewesen. Meine Mutter schien sogar ein wenig verletzt zu sein, wie rasch ich ausgezogen war. Vielleicht hatte ich es mir aber auch nur eingebildet. Der Aushilfsjob im Supermarkt hätte geholfen, damit ich mir das Kellerloch nicht länger von meinen Eltern finanzieren lassen musste.

Die ausgefranste Schuhschachtel, die ich unter dem Bett hervorzog, war übersät mit Aufklebern, wie sie es in Markenläden als Zugabe gibt. Sie war verstaubt, als hätte jemand Puderzucker darüber gestreut. Mit Glitzer-Lackstift stand in geschwungenen Buchstaben darauf: »Meine liebsten Songs.«

Es war nur ein Jahr her und doch kam es mir vor, als hätte ich die Erinnerungen einer Fremden in der Hand. Da war sie, die CD, die ich gesucht hatte: Eminem. Lose yourself. Ich steckte sie in den alten CD-Player auf dem Esstisch. Das Intro erfüllte den Raum. Es begann wie der Pulsschlag eines Kämpfers, der vor einer alles entscheidenden Herausforderung stand ...

Schon lange hatte ich mir keine Musik mehr bewusst angehört. Die Begegnung mit Mad hatte mich daran erinnert. Vom Klang getragen, steuerte ich das Bad an. Der Anblick dort ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Wie jeden Abend. An so etwas konnte man sich vermutlich nicht gewöhnen.

Das Waschbecken war gesprenkelt mit rostbraunen Flecken, die in eingetrockneten Mini-Rinnsalen zum Abfluss hin endeten. Altes Blut hatte wirklich eine hässliche Farbe. Mittendrin lag die Rasierklinge, als hätte man sie in einem Kunstwerk platziert. Ich packte den Lappen, der unter dem Waschbecken lag und öffnete den Wasserhahn. Nach und nach verschwanden die Spuren meines Zeitvertreibs. Denn mehr als ein Zeitvertreib war es nicht, sich zu schneiden, wenn man über eine außergewöhnliche Selbstheilungskraft verfügte.

Zugegeben, beim ersten Mal hatte ich das noch nicht gewusst. Heute erschien mir das Ganze idiotisch. Ich dachte an meine Begegnung mit Mad und das gute Gefühl, das ich danach gehabt hatte. Mit dem Schneiden musste jetzt endgültig Schluss sein. Ich pfefferte den Lappen zurück unter das Waschbecken.

Unter der Dusche ließ ich mir das Wasser über die Haut laufen. Morgen Nachmittag um drei hatte ich eine Verabredung mit Mad. Ich musste nur noch einen Weg finden, den Dämon aus mir zu vertreiben und die Verwandlung rückgängig zu machen.

Laut sang ich den Text des Liedes mit, das in Endlosschleife lief. Am Leben zu sein, war doch toll. Mit nackten Füßen und in einen Bademantel eingewickelt, sah ich die Post auf dem Esstisch durch. Zwischen nervigen Briefen meiner noch nervigeren Mutter fiel mir ein Umschlag in die Hände. Kein Absender. Kein Empfänger. Das gelbe Pergament sah aus, als wäre es aus einer alten Zeit. Ich zog eine Karte heraus, darauf stand in eleganter Schrift:

An Josefine Kienberger, Nosferatu.

Das Verstecken hat ein Ende.

Morgen, Dienstag, 15.00 Uhr, Hotel Vier Jahreszeiten.

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Wir sind am Ende von Kapitel 2 angelangt. Leider gibt es auf Watty keine schöne elegante Schriftart, sonst hätte ich den mysteriösen Kartentext gerne damit geschrieben. Ihr müsst ihn Euch einfach dazu vorstellen.

Finny ist gerade am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen und tut Dinge, die keinesfalls in Ordnung sind. Aber sollte man sie deswegen verurteilen? Ich hoffe, ihr tut es nicht, denn ich mag Finny irre gerne. Ich bin auch sehr stolz auf sie, wie sie sich im Verlauf der Geschichte noch entwickeln wird. Aber lest einfach selbst ... Bald gehts hier weiter :)

Ein großes Dankeschön an alle, die Nosferatu kommentieren und dafür abstimmen - ich freue mich jedes Mal total! ❤️Danke❤️

Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt