1.2 Der Skater mit den blauen Augen

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Ich nickte, wischte mir die Finger am Arbeitsmantel ab und hinterließ darauf Staubstreifen. Klar, ich hatte ja für mich selbst ebenfalls keine Verwendung mehr. Seit einem Jahr war mein Leben nutzlos. Ich starrte auf die Risse in den Fugen der Bodenfliesen. So gern ich alles getan hätte, um diesen Job zu behalten, die Umstände ließen mir keine andere Wahl.

Der Chef beugte sich zu mir hinunter. Entweder lag es an den Tränen, die mir in die Augen gestiegen waren, oder an der Kundin, die sich umgedreht hatte, denn seine Stimme klang sanfter. »Überlegen Sie es sich noch mal gut, Frau Kienberger.« Schon beinahe väterlich legte sich seine Hand mit den Raucherfingern auf meine Schulter. »Denken Sie an Ihre Zukunft.«

Ich sah ihm nach, als er in seinem Büro mit den verspiegelten Scheiben verschwand. Er konnte nicht wissen, dass ich mir pausenlos den Kopf über meine Zukunft zerbrach. Zum Beispiel: Welche Perspektive hatte jemand, der von einem hinterhältigen Wesen zu einem Monster gemacht worden war?

Diesen Job zu verlieren, war ein Rückschlag, keine Frage. Die Realität aber war, dass ich spätestens im Winter, wenn die Tage kürzer wurden, ohnehin nicht mehr in der Lage sein würde, hier zu arbeiten - oder überhaupt einen Job zu finden. Niemand würde eine Siebzehnjährige ohne Schulabschluss einstellen, die nur bei Tageslicht nach draußen konnte.

Ich riss ein Blatt vom Inventurblock ab, als ob ich damit die dunkle Seite meines Lebens hätte abtrennen können. Den dämonischen Teil, der aus mir dieses andere Wesen hervorbrachte, wenn die Kraft des Mondes wirkte.

Ein merkwürdiges Gefühl ließ mich innehalten - Es war, als ob sich die Atmosphäre veränderte. Etwas zwang mich stillzuhalten. Mein Puls begann zu pochen, als würde ein unsichtbarer Regler die Taktfrequenz erhöhen. Wieder spürte ich ihn, noch bevor ich ihn sah. Seit knapp zwei Wochen kam er täglich: Der Skater mit den blauen Augen.

Niemand im Laden interessierte sich für den Jungen. Ich hingegen musste mich anstrengen, ihn nicht anzustarren. Er sah aus, als wäre er einem Musikvideo entsprungen. Haare wie starker, brauner Kaffee lockten sich unter seinem Cap. Seine Kleidung war lässig, aber sicher nicht zufällig. Die enge Jeans saß tief und brachte karierte Boxershorts zum Vorschein. Statt eines Gürtels hatte er sich einen Schnürsenkel eingezogen. Er musste mein Alter haben. Geschmeidig ging er zum Kassenständer, nahm eine Packung Kaugummi und legte sie auf das Band.

Six Gum.

Fruchtgeschmack.

Preis 1,50 Euro.

Jeden Tag.

Ansonsten kaufte er nichts.

Gleich neben dem Supermarkt befand sich eine Skatehalle mit Außengelände. Auf meinem Heimweg hatte ich ihn dort mit Freunden gesehen. Es gefiel mir, wie sie herumscherzten. Sie klatschten sich ab, wenn ihnen ein Trick mit dem Skateboard gelang. Sein Lachen strahlte von weitem aus der Gruppe heraus. Neutral betrachtet, war er nichts weiter als ein normaler Jugendlicher. Und dennoch hatte ich den Eindruck, dass er den Raum mit seiner Anwesenheit ausfüllte.

Mich hatte er noch nie bemerkt.

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Es gibt ein Foto zu diesem Abschnitt, das ich super passend finde!

Ich habe den Link unten als Kommentar angefügt.

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Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt