»Was habt ihr uns zu erzählen?« Razvan führte uns zu den Sesseln hinter ihm, die wie in Talkshows einander leicht zugewandt standen. Ein Mikrofon stand davor. In einem der Sessel saß bereits Yvonne aus dem Aufzug. Verlegen strich sie sich die roten Haare aus dem Gesicht.
Carsten fackelte nicht lange und zog sich besitzergreifend das Mikrofon an den Mund, gleich nachdem wir Platz genommen hatten. »Also, ich bin seit fünf Jahren ...« Er suchte nach den richtigen Worten.
»... auserwählt«, vervollständigte Razvan.
Carsten grinste bis über beide Ohren. »Äh. Ja, genau. Ich bin seit fünf Jahren auserwählt.«
Wieder brandete Applaus auf.
Der Sessel schmiegte sich an meinen Körper und ich genoss das kuschelige Gefühl.
»Ich habe mich eingehend mit unserer Spezies befasst«, sagte Carsten und schlug die Beine übereinander. Ich konnte es ihm ansehen: Das hier war seine ganz große Stunde. Unauffällig zog ich meine schäbige Jacke aus und schob sie mit dem Fuß unter den Sessel.
»Und was hast du für Erkenntnisse gewonnen, Carsten?«, fragte Razvan interessiert.
»Das Volk der Nosferatu besteht schon lange.«
Er nickte zustimmend. »Seit Anbeginn der Welten sogar.«
Es folgte eine schier endlose Lobeshymne über die klugen, intelligenten Nosferatu, die bedauerlicherweise seit der Pest beinahe ausgerottet worden waren.
Ich lehnte mich zurück und prüfte mein Handy. Kein Anruf in Abwesenheit. König Ludwig und der Tätowierer hatten meine Handynummer sicher sofort verbrannt, sobald ich aus der Tür gewesen war. Ob Mad noch am Chinesischen Turm stand und wartete? Verdammt, ich bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf.
»Finny, gibt es etwas, das du wissen willst?«, riss mich Razvan aus meinen Gedanken. Ich hatte gehofft, dass sie mich vergessen hatten.
»Äh«, machte ich wenig geistreich in das Mikrofon, das mir Carsten widerwillig hinschob. Meine dringlichste Frage hatte ich schon im Kopf, seit ich die Einladung zum ersten Mal in der Hand gehalten hatte. Carsten sah mich flehend an. Jetzt war wohl nicht der richtige Zeitpunkt dafür, zu fragen, wie man es wieder rückgängig machen konnte. Ich durfte ihm das hier nicht versauen.
»Was sind wir?«, fragte ich stattdessen. Hatte ich gerade wir gesagt?
Carsten funkelte mich böse an. Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Vielleicht hätte ich im letzten Jahr seinen langweiligen Ausführungen doch besser folgen sollen, dann hätte ich jetzt nicht so dämlich zu fragen brauchen.
Razvan hob eine Augenbraue. »Wir sind die einzigen Dämonen, die es noch gibt.«
»Die einzigen? Was ist mit den anderen passiert?« Ich stockte. »Oder gibt es gar keine anderen?« Mist. Eigentlich kannte ich Dämonen nur aus Fernsehserien und Kinofilmen.
»Das Portal wurde vor langer Zeit zerstört«, erklärte Razvan.
Das Portal? Ich verstand immer noch nicht ganz, um was es jetzt eigentlich ging, aber ich wollte nicht noch eine doofe Frage stellen.
Razvan hatte meinen konfusen Blick bemerkt. »Es gibt keinen Nachschub an Dämonen. Wir sind die einzige noch existierende Spezies.«
»Ach so«, sagte ich.
»Und was unsere Spezies angeht«, fuhr er fort, »ist der Zusammenhalt für uns das Wichtigste.«
Ich sah ihm zu, wie er sich erhob und mit den Händen auf dem Rücken hin- und herwanderte.
»Brüder und Schwestern! Heute ist ein besonderer Tag. Alle Münchner Nosferatu wurden eingeladen und alle sind der Macht gefolgt.«
Macht? Ich runzelte die Stirn. Was denn für eine Macht?
»Ich will euch eine Geschichte erzählen. Am Anfang schuf Gott seinen ersten Erzengel, der das Licht und die Weisheit bringen sollte. Gott nannte ihn den Lichtbringer.«
Ich verschränkte die Arme und lehnte mich zurück. Jetzt auch noch Engel? Nun wurde es wohl richtig abgedreht.
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Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.
ParanormalMystisch - Düster - und voll von schwarzem Humor Finnys Leben hat sich um hundertachtzig Grad gedreht. Gerade noch ein beliebtes Mädchen an ihrer Schule, lebt sie nun als Rattendämon abgeschottet von den Menschen, die ihr einst so viel bedeuteten...