5.3 Michael vs. Luzifer. Und ich mittendrin.

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»Ist das die Stelle, wo es heißt: Gott sprach, es werde Licht?«, fragte Carsten.

»Richtig.« Razvan nickte anerkennend in seine Richtung.

Carsten schenkte mir einen triumphierenden Blick.

»Gott schuf auch seine anderen Erzengel, doch unter allen war sein erster Engel der schönste, den er auch am meisten liebte.«

Razvan strich in Gedanken versunken, beinahe zärtlich, das Tuch über dem Quader glatt. Er räusperte sich und fuhr lauter fort. »Dann schuf Gott den Menschen und gab ihm einen freien Willen, um Gut und Böse zu unterscheiden. Um ihnen eine Wahl zu bieten, brauchte er einen Widersacher. Gott fragte seine Erzengel, wer dieses Schicksal auf sich nehmen würde. Keiner der vielen Engel war bereit - bis auf einer. Sein liebster Erzengel nahm das Schicksal an: Luzifer, der Lichtbringer.«

Im Saal hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Ich schluckte. Luzifer? War das nicht der Teufel höchstpersönlich? Das konnte doch keiner ernst nehmen. Ich prüfte die Runde der Zuschauer, aber sie hingen gebannt an Razvans Lippen.

»Der Erzengel ging mit Tränen in den Augen, denn er liebte Gott und liebt ihn noch heute. So sehr, wie Gott ihn liebt, denn er wird immer sein erster und schönster Engel bleiben. Die anderen Erzengel, und vor allem Michael, beneideten Luzifer um die Liebe Gottes.« Razvans Gesicht verhärtete sich. »Michaels Neid ging so weit, dass er eine eigene Heerschar erschuf, um Luzifer zu vernichten. Zu seiner Verteidigung schuf Luzifer die Dämonen.«

Ich kratzte mich hinter dem Ohr. Das war ja ein starkes Stück. Jetzt machte alles Sinn. Zumindest, wenn man es glauben würde. Luzifer war gar nicht der Bösewicht, sondern gut. Und ein Erzengel noch dazu. Ich hatte mich nie gefragt, woher genau Dämonen eigentlich kommen. Wie selbstsüchtig. Ich war viel zu viel mit meinen mickrigen Problemen beschäftigt gewesen.

Dieser Razvan hatte eine beeindruckende Aura. Ich setzte mich aufrecht hin.

»Michael gelang es, das Portal und alle Dämonen zu zerstören. Zwei Dinge haben unsere Spezies gerettet: unsere Intelligenz und die Gabe der Vermehrung.«

Vermehrung? Ich sah Carsten von der Seite an. Hoffentlich musste das nicht sein.

Ich beugte mich zu Yvonne hinüber und wollte leise von ihr wissen, was Rattendämonen unter Vermehrung verstanden.

»Er meint die Umtriebigkeit. Das ist der vermehrungsbereite Zustand bei Vollmond.«

»Damit ist doch wohl nicht Sex gemeint, oder?«

»Nein, ein Biss. In einer Vollmondnacht kann ein einziger Nosferatu unter optimalen Bedingungen bis zu tausend Menschen verwandeln.«

Ich wollte noch fragen, was genau optimale Bedingungen waren, aber Razvan fuhr mit seinem Vortrag fort.

»Um auch die letzten Dämonen der Welt zu vernichten, spann Michael eine gemeine Intrige. Er schob die Schuld für eine Menschenseuche, die Pest, auf die Nosferatu. Er missbrauchte seine Macht und stattete seine Jünger, die sich Michaeli nennen, mit sechs geweihten Siegeln aus, die ihnen die Kräfte verleihen, uns zu töten. Sie wurden geschaffen, um uns Nosferatu zu vernichten. Jeden Einzelnen hier im Saal.«

Betroffene Stille.

»Es ist wahr.« Carsten begann zögerlich zu sprechen. »Diese Jäger ... die Michaeli - sie verfügen über übermenschliche Kräfte. Sie tauchen blitzartig auf und können vom Stand aus auf einen Baum springen. Sie sind schwarz wie die Nacht, selbst ihre Augen sind schwarz, und sie haben Waffen ... es muss ein ganzes Heer sein, da bin ich mir sicher ...« Er verstummte.

»Was macht dich so sicher?«, versuchte Razvan ihm weiterzuhelfen.

»Ich ...« Carsten stockte und knetete seine Finger. »Ich bin ihnen schon mal begegnet.« Schweiß rann ihm an den Schläfen hinunter. Er starrte vor sich hin.

»Was haben sie getan?«, bohrte Razvan.

Carsten schüttelte den Kopf, als könne er unmöglich weitersprechen.

Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt