4.3 Wenn das mal kein Rattengesicht war

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Der Concierge nahm die Karte entgegen, warf einen Blick darauf, nickte diskret und gab sie Carsten wieder zurück. »Das oberste Stockwerk ist für Sie reserviert. Sie treffen sich dort mit den anderen Herrschaften.« Er lächelte liebenswürdig. »Ich empfehle Ihnen unseren Lift.« Auf seinem Gesicht zeigte sich keine Spur von Verwunderung. Was für ein Profi.

Ich lockerte meine Fäuste und fragte mich, was passieren würde, wenn Dracula hätte einchecken wollen. Sicher würde er verständnisvoll nicken und ohne mit der Wimper zu zucken sagen: »Ich empfehle Ihnen die bleiche Jungfrau in Zimmer 124.«

»Ein ganzes Stockwerk.« Carsten pfiff durch die Zähne, während wir zum Lift gingen. »Wer auch immer der Gastgeber ist, Geldprobleme scheint er keine zu haben.«

Wir gesellten uns zu den Leuten, die auf den Fahrstuhl warteten. Verstohlen musterte ich die kleine Gruppe und versuchte herauszufinden, wer ein Nosferatu sein konnte. Ein Typ mit kurzen, braunen Haaren, spitzer Nase und kleinen Augen fiel mir auf. Wenn das mal kein Rattengesicht war. Bei den anderen war ich mir nicht sicher, in ihren Anzügen und Kostümen sahen sie alle gleich aus. Hatten die sich abgesprochen?

In den geräumigen Aufzug hätte mein Kellerloch spielend hineingepasst. Das Rattengesicht trat als Erster hinein und drückte die Taste für den zweiten Stock. Ich bekam einen Platz in der hinteren Ecke neben einer jungen, rothaarigen Frau im blauen Kostüm. Als sich die Aufzugstür schloss, herrschte eisiges Schweigen.

Niemand hatte auf den Knopf für das letzte Stockwerk gedrückt. Auch Carsten nicht, der mit verschränkten Armen vor der Brust in der anderen Ecke stand. Beinahe hätte ich aufgelacht. Äußerlich sah er mit seinem Anzug aus wie ein Spezialagent, der die Welt befreien musste. Innerlich bereute er sicher, dass wir nicht die Treppe genommen hatten. Der Aufzug wäre ideal für einen Überfall der Jäger gewesen, deswegen traute er sich auch nicht, das verräterische Stockwerk zu wählen. Carsten stand kurz vor einer Panikattacke, die Schweißperlen auf seiner Stirn ließen keinen Zweifel daran.

Überraschenderweise wurde ich selbst ruhiger, je weiter wir hochfuhren. Vielleicht lag es auch daran, dass ich nichts zu verlieren hatte. Jedenfalls war ich mir sicher, dass im Augenblick nichts Schlimmes passieren konnte.

Im zweiten Stock stieg das Rattengesicht mit den meisten anderen aus. >Zum Seminar für Steuerberater< konnte ich auf einem Schild im Vorraum des Stockwerks lesen. Super. So viel zu meiner Nosferatu-Kenntnis.

Übrig blieb noch die Rothaarige, die ich dabei ertappte, wie sie mich aus dem Augenwinkel musterte, und ein älterer Herr mit einer altmodischen Hornbrille.

Der Aufzug blieb mit geöffneter Tür im zweiten Stock stehen und wartete auf den nächsten Befehl. Ich taxierte das Tableau mit den beleuchteten Knöpfen. Anstatt ein Stockwerk zu wählen, fing der ältere Herr an, seine Brille zu putzen. Die Rothaarige strich sich den Rock glatt und streifte nicht vorhandene Fussel von der Schulter. Ich trat von einem Bein auf das andere. Das war doch lächerlich, jemand musste jetzt einen Knopf drücken.

Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt