5.4 "Freiheit für die Nosferatu!"

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Yvonne hatte sich zum Mikrofon vorgebeugt. »Sie kommen, wenn wir verwandelt sind. Uns haben sie in ein Kieswerk getrieben.« Ihr Blick wanderte zu mir. Ich fühlte mich unwohl dabei. »Wir waren auch mal zu zweit. Sie haben uns immer wieder freigelassen, um uns dann erneut einzufangen, die ganze Nacht lang. Mein Freund Erik hat das Spiel nicht mehr ausgehalten. Er hat sich zur Erlösung eigenhändig umgebracht.« Ihre Stimme zitterte. »Die Jäger stritten untereinander, weil er ihren Silberdolch erwischt hatte und sie ihn nicht selbst hinrichten konnten. Ich entkam nur, weil sie einen Moment lang nicht aufpassten. Wer weiß, was sie mir sonst angetan hätten.«

Carsten hatte sich in der letzten Minute gesammelt. Trotzdem atmete er schwer. »Mich haben sie in einen Keller gesperrt und angebunden. Drei Tage lang musste ich Versuche der widerlichsten Art über mich ergehen lassen.« Er senkte die Augen. »Durch Zufall konnte ich mich befreien. Ich brauchte eine Woche, bis meine Selbstheilung einsetzte.«

Ich schluckte. Diese Geschichte von ihm kannte ich noch gar nicht.

Georg, der mit der Hornbrille, trat an die Bühne heran. »Uns allen geht es so. Jeder Einzelne hatte Glück und konnte entkommen. Wie viele mehr müssen sie umgebracht haben! Seit dreißig Jahren sperre ich mich jede Nacht ein, immer mit der Angst, dass sie mich kriegen könnten. Mein Leben ist zerstört, das muss endlich aufhören. Noch dazu glaube ich, dass die unterdrückte Verwandlung nicht gut für uns ist.«

Carsten riss meinen Arm in die Luft und deutete auf die Striemen. »Hier, sie schneidet sich aus Verzweiflung selbst die Unterarme auf.«

»Hey.« Ich zerrte meinen Arm aus seinem Griff und massierte mein Handgelenk. Bestimmt war ich rot angelaufen. »Carsten, du bist so ein Depp, ehrlich«, murmelte ich, doch meine Worte gingen im Tumult unter.

»Diese Schweinehunde!«, kamen Rufe aus der Menge. »Das muss aufhören!«

»Brüder und Schwestern.« Razvan hob die Hände. »Heute ist der Tag, an dem das Leiden ein Ende hat. Der Erzengel Luzifer hat mich als seinen Diener beauftragt, euch zu befreien.«

»Diese Michaeli sind zu stark, sie sind unbesiegbar!«, rief Georg. Seine Hornbrille war verrutscht. »Wir werden alle sterben! Vielleicht schon heute, wo sie uns alle auf einen Schlag erwischen.«

»Oh doch. Sie sind besiegbar. Ich werde es euch beweisen.« Razvan zog mit einer schwungvollen Bewegung den Vorhang vom Quader und enthüllte darunter einen Käfig. Eine schwarz gekleidete Gestalt saß darin. Ihre Ellenbogen waren über die angezogenen Beine gelegt und der Kopf soweit gesenkt, dass das Gesicht verborgen blieb.

»Diesen Michaeli habe ich heute Nacht gefangen.« Mit einer Hand schlug Razvan auf den Käfig. »Der Pakt mit Luzifer hat mich gestärkt, ihre Siegel sind gegen mich machtlos geworden. Ich habe außerdem einen Schutzbann über das Stockwerk gelegt, das müsst ihr gefühlt haben.«

Ich nickte. Ach so, das erklärte auch das wohlige Gefühl. Ich hatte schon gedacht, es hätte an dem Glas Sekt gelegen.

»Wer sich Luzifer anschließt, wird gerettet werden. Er wird es sein, der euch die Freiheit wiedergibt, die euch der Verräter Michael genommen hat.«

Razvan war große klasse, fand ich. Endlich einmal jemand, der an uns Dämonen dachte. Eine Frage hatte ich aber trotzdem noch. Ich wandte mich an Carsten und flüsterte. »Wenn wir Dämonen sind, dann gehören wir doch automatisch zu Luzifer. Wieso müssen wir uns ihm dann nochmal anschließen?«

Carsten ignorierte mich und reckte die Faust hoch. »Wir müssen gemeinschaftlich handeln!«

Euphorischer Beifall.

Razvan brachte eine kleine Platte zum Vorschein. Darauf war ein Pergament gespannt, das genauso vergilbt war wie die Einladung. Daneben legte er einen schwarzen Füller. »Das hier ist ein Bündnis. Erzengel Luzifer gibt euch und allen euren Nachkommen den Schutz vor den Siegeln der Meuchelbande Michaels. Alles, was er dafür will, ist eure Gemeinschaft mit ihm. Wer sich heute anschließt und dieses Bündnis besiegelt, dessen Angst hat ein Ende. Ich frage euch: Seid ihr bereit für den Kampf um die Freiheit im Namen des Herrn?«

Carsten war schnell, aber nicht der Erste, der aufsprang. »Freiheit für die Nosferatu!«, brüllte er.

»Luzifer, Luzifer«-Chöre hallten durch den Saal. Ich wurde von Yvonne mitgerissen, die frenetisch klatschte. Es bildete sich bereits ein Pulk um das Pergament herum und die Ersten, die unterzeichnet hatten, hämmerten auf den Käfig. Der Gefangene darin rührte sich nicht.

»Hast du meine Frage vorhin nicht verstanden?« Ich hielt Carsten zurück, der mich weiter in Richtung Pult ziehen wollte. Die anderen bespuckten den Michaeli. Er erduldete die Schmach, ohne eine Regung zu zeigen.

Als würde er meinen Blick spüren, hob er ruckartig den Kopf. Ich erschrak. Es war ein Junge. Vielleicht vierzehn Jahre alt.




Nosferatu. Vom Vollmond geweckt.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt