Kapitel 12: Flynn

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Kapitel 12

Flynn

Denken und Empfinden sind von Natur aus verschieden. Mein Denken sagt aus, dass ich sie nicht will. Ich soll sie wegstoßen. Ihr das Gefühl geben, dass sie mir nichts wert ist. Mein Empfinden lässt mich spüren, dass ich sie will. Dass ich mich in sie verliebt habe. Dass ich es nicht mehr umgehen kann. Ich könnte, wenn ich wollte, doch das Gefühl was sie mir gibt, gibt mir niemand anderes. Ich liebe es, wie sie mich fühlen lässt. Was sie mich fühlen lässt. Ich will sie wegstoßen, doch irgendwie zieht sie mich immer wieder magisch an. Ich kann ihr nicht entkommen. Ich werde ihr bis zum letzten Tag nicht entkommen können. Jeder Frau konnte ich entkommen. Jede Frau war mir egal, doch bei ihr ist es anders. Ihre blühende äußere Schönheit wickelt mich um den Finger und ihre innere Schönheit umhüllt mich mit ihrer Wärme. Sie lindert meine Schmerzen und Probleme. Im Leben kannst du gegen alles kämpfen, aber nicht gegen deine Gefühle. Nicht gegen diese Gefühle....

Ich schaue zu ihr runter, als sie schläft - auf meinem Bett. Ich habe es zugelassen, dass sie auf meinem Bett schläft. Ich habe diese Frau in meinem Leben gelassen und bald wird sie spüren, dass es ihr größter Fehler gewesen ist, mich kennengelernt zu haben.

Ich mustere ihre Gesichtszüge, ihre Lippen, ihre Wimpern, ihre schönen dunkelblonden Haare. Ich kann mich vom Fleck nicht bewegen, weil ich so fasziniert von ihr bin. Ich erwische mich selber dabei, wie ich sie anstarre und komme mir vor wie ein verdammter Psychopath. Ich laufe zum Lichtschalter und knipse das Licht aus. Erst will ich das Zimmer verlassen, nur weil ich nicht mit ihr in einem Bett schlafen will, doch ich will gerade nichts mehr als ein Bett mit ihr zu teilen. Mir steht eine anstrengende Woche vor, die meine mentale Gesundheit auseinander nehmen wird. Ich brauche gerade eine Wärme, die mich auflädt. Ihre Wärme.

Langsam schlendere ich auf sie zu, hebe vorsichtig die Decke an und lege mich unter die Decke, direkt neben sie. Sie atmet leise ein und aus, während ihr Gesicht genau in meine Richtung zeigt. Ich beobachte sie, weil sie gut zu erkennen ist, durch den Licht der Laternen von draußen, die in ihr Gesicht scheinen. Meine Hand greift wie hypnotisiert nach ihrem Gesicht, als könnte ich nicht anders. Als wenn ich gesteuert werde. Meine Fingerkuppen streichen langsam ihre Wange entlang, runter zu ihrem Hals, dann wieder hoch zu ihrer Wange. Dann beuge ich mich vor und küsse ihre Stirn, während meine Hand auf ihrer Wange ruht. Lange muss ich sie beobachten, bevor ich es nicht mehr kann. Bevor ich sie irgendwann nicht mehr so intensiv beobachten kann, wie in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen stehe ich schon fertig an der Türe von meinem Schlafzimmer, während ich zu ihr schaue. Sie schläft noch - ich habe mich aber auch stehts bemüht, nicht so laut zu sein, nur um sie nicht zu wecken. Ich starre noch kurz zu ihr, ehe ich mit meiner Reisetasche das Zimmer verlasse und die Türe hinter mir zuziehe. Ich lege für Tara all meine Schlüssel auf den Küchentisch. An jedem Schlüssel die Beschreibung, für was diese Schlüssel sind. Auch meine Autoschlüssel überlasse ich ihr, weil ich weiß, dass sie aktuell kein Auto hat.

Dann steige ich in das Taxi und lasse mich zu meinem Standort fahren - zur Behandlungsklinik in Tampa. Alles fängt von neu an. Meine Behandlung. Mein Krebs. Meine Leukämie. Sie ist wieder zurück.

Bereits vor zwölf Jahren hatte ich das Vergnügen mit Leukämie, als ich zwölf war. Ich hatte eine Chemo, eine ganz schlimme Chemo. Sie hat meine Leukämie für einen kurz Zeitraum geheilt. Bis vor einem Jahr, vor Australien, habe ich herausgefunden, dass er wieder da ist. Mit einer Chemo kann ich mich nicht mehr behandeln lassen, denn es würde mir nicht helfen. Ich würde nur daran kaputtgehen. Lieber will ich sterben, als noch einmal die Chemo durchführen zu müssen. Die Medikamente heilen sie nicht, sondern lindern nur ein wenig meine Schmerzen und verhindern den schnellen Prozess. Das Einzige was meine einzige und letzte Hofffnung ist: Die Stammzellenspende. Die Liste ist lang. Bis man dran ist, ist man wahrscheinlich bereits tot. Ich hoffe jeden Tag, doch die Hoffnung stirbt zuletzt .. oder doch ich? Eigentlich ist es mir egal, ob ich sterbe oder lebe, ich habe niemanden für den es sich lohnt zu leben. Meine Familie ist tot und der Krebs ist zurückgekommen, um mich zu meiner Familie zu bringen. Sie warten bereits auf mich. Es ist ein Zeichen dafür, zu gehen. Eigentlich wollte ich gar nichts tun, außer auf den Tod zu warten. Doch meine Absicht ist es, das Geld meiner Eltern vorher noch auszugeben, bevor es der Staat geschenkt bekommt. Es gibt niemanden mehr in der Familie, der es verdient hätte. Niemanden. Da wäre nur noch Luke, der von all dem auch nichts weiß, weil ich kein Mitleid erregen möchte. Dann ist da noch Tara ... Tara. Wenn ich an ihren Namen denke bekomme ich Gänsehaut. Aber Tara hat es nicht verdient verletzt zu werden. Wenn sie sich in mich verliebt und dann herausfindet, dass sie sich quasi in einen Toten verliebt, wird ihre Welt zusammenbrechen. Sie ist stark, ja. Aber wer verkraftet sowas? Genau. Niemand. Nicht einmal Tara. Sie würde mich bemitleiden, wenn sie es wüsste. Sie würde mich wahrscheinlich nicht mehr anzicken. Sie würde sich für alles schlecht fühlen. Ich will so behandelt werden, als wenn ich noch sechzig Jahre zu leben habe. Doch Tara ... Tara hätte das Geld verdient. Sie kämpft mit ihrem Leben auf eine andere Art und Weise als ich es tue. Sie kämpft mit dem harten Leben. Mit den alltäglichen Dingen.

My Beautiful DisasterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt