1. Der Zug

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Es war viel zu eng.
In dem überfüllten Zug war kaum genug Platz, um aufrecht zu stehen, weshalb sich Remus direkt in eine Ecke gezwängt hatte und nun versuchte, niemanden zu berühren, was unmöglich ist, wenn bei jeder Linkskurve die gesamte Besatzung ins wackeln kommt und er von seinem Sitznachbarn in die Eisenwand des Wagons gedrückt wird.

Seit Stunden saß er schon da, die Beine fest an den Körper gezogen und versuchte sich von den vorbeiziehenden Bäumen nicht zu übergeben.
Auch wenn er genau genommen die letzten Jahre kaum Gesellschaft hatte, fühlte er sich doch nun zum ersten Mal richtig allein. Mittlerweile war er sich sicher, für immer allein zu sein.

Anfangs hatte der blonde Junge neben ihm, ungefähr in seinem Alter, versucht ein Gespräch anzufangen, dies aber zügig aufgegeben, denn mehr als „hm", „okay" oder „keine Ahnung", konnte er von Remus zur Zeit nicht erwarten. Schon immer hatte der lieber gedacht als gesprochen und diese Gedankenzüge für sich behalten.

So hatte der Blonde sich einen neuen Gesprächspartner gegenüber von ihnen gesucht, der genauso einengt wie sie da saß und heiter darauf losquatschte.

„Was machst du hier?", fragte der neben Remus. „Für was bist du hier?"

„Bis zum letzten Tag habe ich auf der Straße gelebt, mein täglich Brot geklaut. Dann kam ein Mann in seltsamer Kleidung vorbei und hat mir ein besseres Leben versprochen." Seine Miene huschte durch den Zug, als würde er etwas oder jemanden bestimmtes suchen. „Steig in den Zug, sagten sie. Ein erfolgreiches Leben wird auf dich warten, Bildung und ein Job, bei dem du gut Geld für deine Familie machen kannst."

Remus spitzte plötzlich die Ohren und richtete seine Aufmerksamkeit zum ersten Mal während dieser Fahrt auf seinen Gegenüber. Genau das wurde ihm auch versprochen, daran konnte er sich noch genau erinnern.

•••

Auf einen Anruf der Hausmutter kam der Mann in seltsamer Uniform ins Waisenhaus St. Edmunds, um ausschließlich mit Remus zu sprechen, welcher zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt wurde.
Anlässlich des Tages saß er mit seinem einzigen Freund Grant auf einem Bett mit dreckigen Lacken und bekam ein ungenießbares, verbranntes Stück Kuchen mit einer tropfenden Wachskerze oben drauf serviert. Es ging offensichtlich mehr um die Geste, als um den Kuchen.

An der Tür des Zweierzimmers klopfte es wenig später, was für einen Samstagmittag ungewöhnlicher nicht sein könnte und der riesige Mann bestand darauf, allein mit Remus zu sein. Grant gefiel das überhaupt nicht, doch wegen der auftretenden Autorität des Soldaten verließ er am Ende doch den Raum.

Und dann kamen die ganzen Versprechen.

Der Mann stammte angeblich von einem Geheimdienst und wollte heimlosen Kindern, ohne Eltern oder Erbe, die Chance auf ein besseres Leben ermöglichen. Er bot ihm eine Ausbildung mit Perspektiven an, einen Job im Ausland, für den er am Ende Geld bekommen würde. Remus müsste einzig und allein am nächsten Morgen in einen bestimmten Zug steigen.
Der Zug ins Paradies.

•••

Wie das Schicksal es so wollte, saß er jetzt darin und bereute jede einzelne Entscheidung, die er in den letzten 24 Stunden getroffen hatte. Wieso hatte er nicht auf Grant gehört und sich in New York einen Tagesjob besorgt? Wieso musste er nun auf mehr aus sein, wenn doch sein komplettes Leben schon immer recht mittelmäßig lief?
Er hätte bereits skeptisch werden müssen, das niemand ihm mitteilte, wohin sie überhaupt fuhren oder welche Arbeit er verrichten müsse.

Den Rest des Gesprächs hatte er leider nicht mehr mitbekommen, allerdings erhoben sich mit den beiden Stimmen der jungen Männer auch die Gespräche der anderen, stehenden oder auf dem Boden liegenden, was in Remus empfindlichen Wolfsohren zu einem beständigen Piepen wurde. Generell bemerkte er erst jetzt, das es nur Männer waren. Wurden die weiblichen Personen in anderen Wagons untergebracht? Das würde nach all dem, was er schon so gesehen hatte, viel Sinn machen. Oder gab es gar keine Frauen, die ohne Eltern aufwuchsen? 

Remus zuckte zusammen, denn plötzlich fuhren sie schräg, sodass erneut die gesamte Menge in seine Richtung kippte und anders als die letzten Male, stoppte es nicht nach wenigen Sekunden. Ohne Zweifel, sie fuhren einen Berg hoch.

Eine noch größere Überraschung, die ihn wiederholt zucken ließ, erfolgte in der selben Minute. Die Tür des Abteils wurde geöffnet und ein kleiner, leicht dicker Mann betrat ihn mit lauten Schritten. Er trug die eigenartige Uniform, in der auch der Soldat von vor ein paar Tagen im Heim gekleidet war. Remus konnte ihn schlecht sehen, doch sein Gesicht wirkte rundlich, satt und zufrieden. „Wir sind gleich da, also seit lieber ruhig!", rief er so laut, das locker jeder Wagon etwas davon hatte. Die Unterhaltungen wurden immer ruhiger, bis sie alle verstummten.

Der Junge neben Remus, der sich vorhin als „Luca" vorgestellt hatte, schien jedoch nichts davon mitzubekommen, redete einfach weiter vertieft mit seinem Gegenüber. Komischerweise ließ es die Angst in Remus Blut steigen und als der Soldat in schnellen Schritten den Wagen durchquerte, hörte er auf zu atmen. Auf dem Rücken trug der Mann, welcher von nahem jünger aussah, eine Schusswaffe, die er nun aus dem Nichts zog und auf Luca gerichtet hielt.

Ohne mit der Wimper zu zucken stoppte dieser seinen Sprachwahn und blickte wehmütig zum Soldaten auf, der ihn missbillig musterte. „Hast du mich nicht verstanden? Ich sagte ruhig." Er drückte das Metallende der Waffe in Lucas Kiefer.

Er wusste es, ging durch Remus' Kopf. Es ist eine Falle. Niemand will einem fremden Kind ohne Geld etwas Gutes.
Seine Atmung ging schneller und schneller und für eine Sekunde dachte er, der Überlegene würde seine Macht ausnutzen, doch dann ertönte eine weitere Soldatenstimme durch den Wagon, aus der Tür, durch die auch der Erste gekommen war. „Komm schon Wormy, wir sind gleich da!"

Alle Blicke schnellten zu ihm und leise atmeten die Leute auf. Die beiden unterschieden sich wie Tag und Nacht.
Dem zweiten Soldat war die Uniform etwas zu weit, seine Haare waren schwarz und ganz verwuschelt und er trug eine lächerlich große Brille. Seine Schritte durch den Wagen waren anmutig und locker, nicht ansatzweise so steif wie die des Ersten.

„Wie heißt du, Junge?", fragte er dann ernst nach, drückte aber gleichzeitig die Waffe aus seinem Gesicht.
„Luca, Sir.."

Die Antwort genügte, er drehte sich um verließ den Raum wieder so schnell er gekommen war. Remus erlaubte sich aufzuatmen, als auch der Andere.. „Wormy" die Flucht ergriff. Beim Vorbeigehen blieb sein Blick kurz bei Remus und dieser sah nichts als Angst in den grauen Augen.

Der Zug ins Paradies - ||Wolfstar||Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt